28 April 2021

Bewegungsphänomene, Schätzspiele

Wie ist ein weiterführenderAbsprung von Heideggers frühem Denken möglich? Die eine Möglichkeit läuft über die Bewegungsphänomene. Diese kommen bei Heidegger in den Brennpunkt seiner Analysen z.B. im WS 1921/22 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles: Einführung in die phänomenologische Forschung GA61, insbesondere im III. Teil
“1. Kapitel Grundkategorien des Lebens
E. Die Bewegungskategorien. Reluzenz und Praestruktion
a) Die Bewegungskategorien in der Neigung
b) Die Bewegungskategorien in der Abstandstilgung
c) Die Bewegungskategorien in der Abriegelung
2. Kapitel Die Ruinanz
Ruinanz die Bewegtheit, die das Leben in ihm, als es, für sich, aus sich heraus, d. i. gegen sich selbst »ist«”

Dies nur als grober Hinweis darauf, daß für Heidegger das "Leben" (was später in "Dasein" umbenannt wird) als (eine Art bzw. Arten von) Bewegung aufgefaßt bzw. ausgelegt wird, was wohl kaum umstritten werden kann.

Wie in meiner vorigen Post bemerkt geht es im SS 1923 GA63 ausdrücklich darum, den "Seinscharakter" des Daseins in einer passenden zusammenhängenden Begrifflichkeit auszuarbeiten, und zwar in einer "Hermeneutik der Faktizität", wobei in dieser Hermeneutik "Faktizität = jeweils unser eigenes Dasein" (GA63:21). Dabei ist das Dasein nicht der Mensch, sondern eine Seins- bzw. Anwesungsweise, die uns Menschen angeht, an der wir als Menschen teilhaben und die Heidegger auch "Existenz" nennt. Somit werden die Kategorien der traditionellen Ontologie in dieser Daseinsontologie zu Existenzialien. ("Vorhabe der Hermeneutik die eigenste Möglichkeit des Daseins, die Existenz; ihre Begriffe sind Existenzialien" (GA63:16))

"Jeweils unser eigenes Dasein" kann verstanden werden als die Existenz des einzelnen Daseins insbesondere als Selbst. Die Existenz des einzelnen Daseins jedoch ist umfassender als ein vereinzeltes Dasein, sondern — insofern das Selbst eine Selbstwelt hat — umfaßt notwendig auch das Miteinandersein als zum "Seinscharakter" des Daseins gehörig. Dies erfordert aber, daß "das eigene Dasein" eigentlich in einer Pluralität gedacht werden muß: den Einzelnen als Einzelnen 'gibt' es nur im Miteinander. Um dieses Miteinander als Seinscharakter des Daseins zu begreifen, bedarf es u.a. eines Begriffs der eigentümlichen Bewegungsart des Miteinanders, in der Dasein und Dasein sich begegnen. Die betreffende Bewegungsart ist alles andere als ein lineares Nacheinander, sei es als Aktion und Reaktion, d.h. als Interaktion, zu begreifen, sondern als ein gegenseitiges Schätzspiel, in dem die Spieler sich ständig gegenseitig schätzen, und zwar in allen möglichen Schattierungen, die die Phänomenalität des Schätzens hergibt. Von daher könnte man von einem Geschätz aller möglichen Spielarten des gegenseitigen Schätzens (τιμἠ) sprechen, das das Miteinandersein wesenhaft charakterisiert. Soweit ich sehe, hat Heidegger diese Bewegungsart des Lebens bzw. des Daseins als Schätzspiel nicht gesehen, geschweige denn ausgearbeitet.

Die Bewegungsart des gegenseitigen Schätzspiels läßt sich überhaupt nicht von der linearen Zeit des Nacheinander der Jetzte fassen, sondern bedarf als erstes der Offenheit der Gabe der dreidimensionalen Zeit, die erst die Freiheit in der existenziellen Bewegung, d.h. die Bewegungsfreiheit der Spieler im Schätzspiel, ermöglicht. Die Begegnung zwischen Dasein und Dasein ist ein gegenseitiges Geben von Schätzungen des Anderen, das als freies Interplay (Wechselspiel) zu bezeichnen ist, da die Züge in diesem Wechselspiel nicht kausal-linear erfolgen. Denn die drei zeitlichen Dimensionen sind unabhängig voneinander (was Heidegger nicht deutlich sieht), was auch den Spielern selbst viel Spielraum mit überraschenden, unkalkulierbaren Zügen läßt. Damit geht einher, daß erst mit diesem existenziellen Bewegungsbegriff es überhaupt möglich wird, die Bewegtheit des Miteinanders auch als ein Kräfte- und Machtspiel auszulegen, das gewissermaßen zur Kehrseite des gegenseitigen Schätzspiels gehört. Denn die Spieler im Schätzspiel bewegen sich durch die Äußerung ihrer Kräfte und Mächte.

Aus meiner Sicht bedarf ein phänomenal adäquater Begriff der gesellschaftlichen und politischen Macht der Gründung in der existenziellen Ontologie des gegenseitigen Schätzspiels. Soweit ich sehe, ist dies bisher nirgends — weder in der Philosophie noch in den Sozialwissenschaften — geleistet. Dabei ist das gegenseitige Schätzspiel keineswegs ein Vorgestelltes, sondern eine hermeneutische Auffassungs- und folglich eine Anwesungsweise unseres eigenen geteilten Daseins in der Bewegtheit des Miteinanders.

Das Verhältnis des Daseins zur Natur, zu den Dingen, die nicht an der Seinsweise des Daseins teilhaben, kann gleichsam als einseitiges oder verkürztes Schätzen aufgefaßt werden. Bodenschätze z.B. sind als bloße Naturressourcen vergegenständlicht und somit unterschätzt. Die Elektronen z.B. werden skrupellos ausgenützt um des Stroms willen, der als eine physische, technisch beherrschte Bewegungsart unsere eigene Lebensbewegtheit auf der Erde wesentlich unterstützt und erleichtert oder vielmehr sie in dieser modernen Weise der Bequemlichkeit erst ermöglicht. Auch die reine Bewegungsenergie der Photonen wurde von der modernen mathematisierten Physik als solche entworfen, um physische Bewegungsphänomene wirkkausal zu erklären, und so unter die wissende Herrschaft über die physische Bewegung zu bringen. Es wird nicht gefragt, ob dabei das Phänomen Photon unterschätzt worden ist, sondern nur, ob die Auffassungsweise der Photonen als reiner Bewegungsenergie effektiv ist.


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