20 November 2013

Ich-und-du im Augen-Blick

Als ich der Sendung:
  • Sidi Larbi Cherkaouis "Milonga" in St. Pölten - Wiebke Hüster im Gespräch 

    Sendezeit:
    16. November 2013, 17:37 Uhr
    Autor:
    Köhler, Michael
    Programm:
    Deutschlandfunk
    Sendung:
    Kultur heute
    Länge:
    06:00 Minuten
    MP3:
    Audio abspielen

  • http://www.deutschlandradio.de/audios.260.de.html?drau:broadcast_id=146&drau:from=16.11.2013&drau:to=16.11.2013

    zuhörte, kam mir folgender Gedanke.

    Tango Augen-Blick

    Wenn zwei Tango-Tänzer beim Tanzen
    sich in die Augen schauen,
    heißt es nicht unbedingt,
    daß sich ich-und-du ereignet,
    aber es kann geschehen,
    daß in diesem Augen-Blick
    du-und-ich flüchtig aufblitzt
    und so kaum anwest,
    und
    du und ich gegenseitig wissen,
    daß wir Welt zeit-weilig miteinander teilen.


    04 November 2013

    Begegnung vs. Intersubjektivität

    Wie verfehlt die moderne Psychologie das Phänomen der Begegnung? 


    Es könnte leicht den Eindruck entstehen, daß die Phänomenologie der Begegnung zwischen ich-und-du lediglich das wiederholt, was schon längst hinlänglich bekannt ist. Wer weiß ja nicht heutzutage — zumal ein Psychotherapeut —, daß es wichtig ist, auf die Stimmungen zu achten? Wie stets sagt die Phänomenologie nichts Unbekanntes, sondern verwandelt durch ihr Fragen das All-zu-Bekannte in ein Unbekanntes, um übersehenes Verborgenes erst sichtbar zu machen.

    Was aber sagt die moderne Psychologie zur Phänomenalität der Begegnung? Das ist die Problematik der Intersubjektivität von Subjekten. Streng genommen gibt es keine Begegnung zwischen ich-und-du für die moderne Psychologie. Wieso nicht? Weil sie von Subjekten ausgeht, die jeweils mit einem inneren Bewußtsein gegenüber einer Außenwelt ausgestattet sind. Daß es diese Bewußtseinssubjekte und eine Welt gibt, wird schlicht vorausgesetzt — es ist keine Frage. Zwei Subjekte treffen sich. Subjekt wird in der dritten Person singular verstanden, selbst wenn gelegentlich die Rede von ich oder du sein mag. Selbst die erste Person ist dann nicht ich, sondern das Ich, d.h. dritte Person singular. Das andere Subjekt ist nicht du, sondern ein anderes Bewußtseinssubjekt, das Andere. Die Subjekte sind jeweils ein Was, und kein Wer, und diese folgenreiche Differenz wird nicht einmal gesehen, sondern blind übersprungen. Die moderne Psychologie problematisiert auf keinste Weise, daß es einen Unterschied zwischen der Dimension der dritten Person einerseits und der der erst-und-zweiten Person andererseits gibt. Daß es sich um verschiedene Seinsweisen handelt, bleibt der modernen Psychologie verborgen, denn das Wort ‘Sein’ ist für sie ein selbstverständliches Wort. Zu sagen, Sein heißt Anwesung, klingt für die wissenschaftliche Psychologie wie obskurantischer Kauderwelsch. Und in der Tat ist Frage nach dem Sein keine wissenschaftliche.

    Aus den empfangenen ‘Daten’ aus der Außenwelt — z.B. den ‘Signalen’, die das andere Subjekt ‘aussendet’ —, macht sich jedes Ich-Subjekt ein inneres Bild in seinem Bewußtsein vom jeweils anderen Subjekt, das es dann auf dieses Andere ‘projiziert’. Durch was für ein Offenes werden solche Projektionen von Innen nach Außen zum anderen Subjekt vorgenommen? Was ist das Medium? Darauf hat die moderne Psychologie keine Antwort — dieses Offene, das die Subjekte immer schon miteinander teilen, wird vorausgesetzt. Zum Mitdasein in diesem Offenen gehört auch die Gestimmtheit, die die Einzelnen in einer jeweils miteinander geteilten Situation be-stimmen. Für die moderne Psychologie hingegen gibt es keine Stimmungen, die das Offene einer Zeitlichtung stimmen, sondern: es gibt Gefühle innerhalb der jeweiligen subjektiven Bewußtseine. Für die Psychologie der Intersubjektivität ist es ein Problem, wie solche inneren Gefühle miteinander geteilt werden können. Das eine Subjekt muß also ein Einfühlungsvermögen (Empathie) besitzen, um sich ins innere Gefühlsleben des anderen Subjekts einfühlsam einzufühlen. Es wird zum Problem, wie das subjektive innere Bewußtseinsbild des einen Subjekts vom anderen Subjekt einschließlich seiner inneren Gefühlen mit den ‘wahren’ inneren Gefühlen des anderen Subjekts zu tun haben können.

    Gefühle sind überhaupt für die moderne Psychologie ein subjektives Phänomen, d.h. Gefühle sind im Inneren des Bewußtseins eines Subjekts verkapselt. Sie sind das Innere des Bewußtseins bewegende Emotionen, die zuweilen auch ausgedrückt werden. Daher bemüht sich die moderne Psychologie darum, solche inneren subjektiven Gefühle auf verschiedene Weisen zu objektivieren, z.B. durch die Erhebung von Daten in kontrollierten wissenschaftlichen Experimenten mit vielen Subjekten oder neuerdings durch die wissenschafltiche Untersuchung der neuronalen Korrelate der subjektiven Gefühle in der Materie des Gehirns. Durch diese objektive Wissenschaftlichkeit wird das Phänomen selbst einer Begegnung zwischen ich-und-du nicht nur aus den Augen verloren, sondern jede Möglichkeit, es überhaupt zu sehen, wird gewaltsam unterdrückt zugunsten irgendwelcher wissenschaftlichen Erklärungen. Es wird fraglos versucht, das bloß Subjektive im objektiv Meßbaren zu begründen. Die Materie — heute in erster Linie das Gehirn — soll als Erklärungsgrund dienen, und die Wissenschaft, die Medien und alle schwatzen unaufhörlich gedankenlos davon. Sie glauben blind daran.

    Wenn nun die klinische Psychologie in verschiedenen Spielarten von Psychotherapie versucht, das Menschlich-Subjektive der Gefühlswelt zu retten, unternimmt sie dies mit völlig unzulanglichen Mitteln, denn sie übernimmt unbesehen die Sprache und vor allem die Denkweisen der Wissenschaft. Schon mit dem Ansetzen der Problematik der Intersubjektivität unter Subjekten hat auch die klinische Psychologie die Phänomene, wie sie sich schlicht von sich aus zeigen, verfehlt, und stellt nicht die einfachsten Fragen wie z.B., ob das Bewußtsein mit seinen Bildern etwa von einem ‘inneren Kind’ im anderen Subjekt einen phänomenalen Halt hat. Stattdessen flüchtet die Psychologie in Metaphern, die den Blick verstellen. Selbst die phänomenologische Psychologie verabschiedet sich nicht von der Intersubjektivität und mißversteht die Phänomenologie als bloß beschreibende Methode. Damit überspringt auch sie die einfachsten Phänomene, die sich dem denkenden Blick zunächst entziehen.