21 July 2023

Unendlicher Logos, endliche Zeit?

 Angeregt von einem Gespräch mit einem philosophischen Freund:

In der Tat sind die Unterschiede zwischen Hegels und Heideggers Denken groß, aber sie können noch miteinander 'reden'. Wie steht es nun mit der "Endlichkeit des Menschen"? Ist das Dasein letztendlich als In-der-Welt-sein zu fassen, oder ist dies erst ein vorgreifender Vorbegriff, dem es aufzuheben gilt? Wie ist das Absolute (Absolvente, Abgelöste) im Hegelschen Sinn zu verstehen? In erster Linie ist das Absolute das Nicht-Relative, und das zunächst im Hinblick auf das Wissen. (Das Absolute ist Gott hauptsächlich für die Religion.) Hegel setzt sich vor allem mit Kants subjektivem Idealismus auseinander, wonach das menschliche Wissen grundsätzlich darauf angewiesen ist, daß Erfahrungen der äußeren Welt den Sinnen erst mal gegeben werden, um dann im Inneren durch den Verstand nach logischen Regeln als Erfahrungen von Gegenständen in der Welt aufbereitet zu werden. Die Gegenständlichkeit des Gegenstands ist die subjektive Leistung des Verstands a priori. Damit ist für Kant das menschliche Wissen von der Gegebenheit der Erfahrungen abhängig, d.h. relativ, d.h. nicht absolut, d.h. endlich, begrenzt, nicht ἄπειρον, sondern beschränkt. 

Für Hegels absolutes Denken hingegen gibt es diese Begrenzung nicht, das Absolute ist unendlich, unbegrenzt und damit synonym mit 'Unendlichkeit'. Dies wird im ersten Teil der Phänomenologie des Geistes gezeigt und geleistet, wo das Bewußtsein seine verschiedentlichen Erfahrungen mit dem ihm gegenüberstehenden, äußeren Gegenstand macht, um schließlich mit dem Übergang zum Selbstbewußtsein die Kluft zwischen dem Bewußtsein und dem Gegenstand, d.h. zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zu überwinden und damit diese Begrenzung bzw. Endlichkeit (πέρας) aufzuheben, denn der Gegenstand ist dann im Selbstbewußtsein. Mit dem Selbstbewußtsein ist das Wissen schon an sich unbegrenzt, unendlich, d.h. absolut. Dieses Ansich muß aber durch weitere Erfahrungen des (Selbst)Bewußtseins begrifflich entfaltet werden, wodurch es zur Vernunft, zum Geist und schließlich zum absoluten, unendlichen Wissen im Begriff wird. Schon mit dem Geist ist die Trennung zwischen einzelnen Selbstbewußtseinen überwunden, und der Kern eines miteinander geteilten Wir geworden. Das Bewußtsein wird dann schließlich im Begriff zum an und für sich absoluten Wissen. Wer aber denkt heute noch begrifflich in der Philosophie? Der Hegelsche Begriff ist — wohlgemerkt — spekulativ, d.h. er faßt Formen des Seins des Seienden von der ontologischen Differenz her. Die ontologische Differenz jedoch ist seit langem von der philosophischen Bühne verschwunden. Es bleiben nur noch empirisch-positivistische Begriffe in den Wissenschaften übrig, und die philosophischen Gelehrten wissen nicht, was "die Anstrengung des Begriffs" bedeuten soll.

In seiner Vorlesung zu Hegels Phänomenologie des Geistes im WS 1930/31 (GA32) charakterisiert Heidegger den großen Unterschied zwischen Hegel und sich selbst als den zwischen Sein und Logos einerseits und Sein und Zeit andererseits. Die Zeit tritt an die Stelle des Logos, des Denkens, und Heidegger schlägt radikal vor: 

"Im Hinblick auf den Titel Sein und Zeit könnte man nun von Ontochronie sprechen. Hier steht χρόνος an der Stelle von λόγος. Aber wurden beide nur ausgewechselt? Nein! Es gilt vielmehr, alles von Grund auf und unter Übernahme der wesentlichen Motive der Frage nach dem Sein neu zu entfalten." M. Heidegger Hegels Phänomenologie des Geistes GA32:144 

"[A]lles von Grund auf ... neu zu entfalten", und zwar von der "ursprünglichen", d.h. der ekstatisch-existenzialen Zeit her da capo! Welche/r Leichtsinnige würde es heute noch wagen, diesen Vorschlag Heideggers ernstzunehmen und ihn in die Tat umzusetzen!? Heidegger selbst hat dies nicht gewagt, sondern sich mit Hinweisen auf das Zu-Leistende begnügt. Wenn man es aber trotzdem wagt und — im Gegensatz zu Hegel in seiner Logik — mit der dreidimensionalen, offenen Zeit anfängt, dann gibt es keinerlei Subjekt/Objekt-Spaltung zu überwinden, denn Alles, was an- oder abwest, d.h. die Welt, kann nur in der Zeit und damit im Dasein an- und abwesen. Am Anfang ist das Dasein noch nicht individuiert. So gesehen ist das Heideggersche Dasein nicht in der Welt, sondern die Welt 'ist' im Dasein! Existieren wir damit bis zu dem Tag, wann dies eingesehen wird, in einer verkehrten Welt? 

Das Dasein ist ursprünglich in der Zeit! Nun müssen wir fragen, ob diese ursprüngliche, ekstatisch offene Zeit endlich ist. Das ist die entscheidende Frage, um womöglich eine Grenze zwischen Hegels unendlichem Denken und Heideggers angeblich endlichem Dasein zu ziehen. Wenn man die Endlichkeit des Daseins als die Endlichkeit des individuierten sterblichen Daseins interpretiert, das seine endliche Zeitstrecke auf Erden — gestreckt zwischen Geburt und Tod — fristet, dann ist die Frage anscheinend ohne Weiteres schon beantwortet: die Endlichkeit des Daseins ist dann nichts anderes als die Endlichkeit der Zeitstrecke des Lebens von diesem individuellen sterblichen Wesen. Diese Antwort ist zu simpel, denn sie greift auf die vulgäre,  eindimensionale Zeit mit ihren Zeitstrecken zurück. Die eindimensionale Zeit ist nicht offen, sondern wortwörtlich platt.  Zudem setzt sie die Individuierung des Daseins voraus, die erst durch die Verleiblichung des Daseins begrifflich eingeholt wird. Ursprünglich jedoch nimmt das Dasein ungeteilt an der Zeit teil.

Mit anderen Worten: die ursprüngliche, ekstatisch-existenziale Zeit, zu der das Dasein wesenhaft gehört (das Da ist ursprünglich die Zeit selbst und so vorräumlich!), ist die zeitlich dreidimensionale Offenheit, in der das nun individuiert-leibliche Dasein west, d.h. an der es teilnimmt, solange es lebt. Und diese zeitlich dreidimensionale Offenheit erstreckt sich über die Grenzen eines endlichen individuierten Lebens hinaus. Alles muß in der dreidimensionalen Zeit wesen, wenn es überhaupt wesen soll! Sogar der Anfang des Universums in der dreidimensionalen Zeit kann als gewesen für das Dasein geistig anwesen z.B. in physikalischen Theorien vom Urknall. Oder das Ende des Universums kann gleichfalls aus der zeitlichen Dimension der Zukunft der dreidimensionalen Zeit in mathematisch-physikalischen Theorien für das Dasein anwesen. [N.B. es geht hier nicht darum, ob diese Theorien 'wahr' oder gar 'richtig' sind.] Alles Mögliche (und Unmögliche) kann für das Dasein geistig an- und abwesen. Wenn die dreidimensionale Zeit für das Dasein allumfassend ist, d.h. daß Alles, was überhaupt 'ist', nur in der ekstatisch dreidimensionalen Zeit an- oder abwesen kann, wo ist dann die Grenze, welche die Endlichkeit des Daseins markieren soll? 

Weitere Lektüre: On Human Temporality.