25 April 2021

Zu Heideggers Vorlesung SS 1923 GA63

Wie in meiner letzten Post ausgeführt war Heidegger in seinen Vorlesungen 1919/20 GA58 m.E. gar nicht so weit, sondern eiert eher herum, um seinen Weg zu finden. Er ist noch auf der Suche nach einem "Ursprungsverstehen des Lebens" (GA58:139), das es nicht vergegenständlicht. Auch im SS 2020 Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks GA59 ist er lediglich mit der "Destruktion" zweier Ansätze zur Lebensphilosophie beschäftigt: des Aprioriproblems und des Erlebnisproblems.

Erst 1923 im SS Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) GA:63 hat er m.E. die Spur gefunden, die ihn viel weiter bringen wird, und zwar in einer hermeneutischen Ontologie der Faktizität, wobei Faktizität "das eigene Dasein als befragt auf seinen Seinscharakter" (GA63:29) bedeutet. Da erscheint eine durchdachte Begrifflichkeit, die Rede ist nicht mehr vom "Leben", sondern vom "Dasein".

"Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein." (GA63:15)

Das je eigene Dasein bleibt von sich selbst entfremdet, solange es seinen eigenen Seinscharakter nicht versteht. Dieses Sich-selbst-Verstehen erfordert Begriffe, nämlich hermeneutisch-ontologische Begriffe, die sich an die Phänomenalität des Daseins anschmiegen und damit zu "Existenzialien" werden.

"Das »Heute« nach seinem ontologischen Charakter, als Wie der Faktizität (Existenz), kann voll erst bestimmt werden, wenn explizit das Grundphänomen der Faktizität sichtbar geworden ist: »die Zeitlichkeit« (keine Kategorie, sondern Existenzial)." (GA63:31)

Hier kommt die Zeitlichkeit, die keine Rolle in GA58 gespielt hat, zum Durchbruch, und das Grundphänomen der Faktizität des eigenen Daseins entpuppt sich als die Zeitlichkeit! Ich bin also die Zeit selbst auf meine je eigene Weise! Du bist also die Zeit selbst auf deine je eigene Weise! Existenziale betreffen nicht, was das Dasein, sondern wer jeweils das Dasein-in-der-Welt eines geschichtlichen Zeitalters ist. Viel später — in seinem Vortrag 'Zeit und Sein' (1962) — wird das Dasein insofern die vierte Dimension der offenen Zeit, als die dreidimensionale Zeit es er-reicht. 1923 ist es jedoch noch nicht so weit: "Das eigene Dasein ist, was es ist, gerade und nur in seinem jeweiligen »Da«." (GA63:29) Und dieses "Da", wie es sich herausstellen wird, ist die je eigene dreidimensionale Zeitlichkeit selbst, wie sie je eigens in ihrer jeweiligen Stimmungsresonanz erfahren wird. Diese Zeitlichkeit ist aber auch das, was wir unentrinnbar miteinander teilen, und somit die ontologisch-existenziale Grundlage alles Miteinanders, alles Wir. Die Zeitlichkeit als Offenheit des Da ist auch die geschichtliche Offenheit für den jeweiligen Seinsentwurf, d.h. für das hermeneutisch-ontologische Gerüst eines Zeitalters, wobei sich die Seinsentwurfe verschiedener Zeitalter auch überlagern können und somit 'koexistieren'. Das hermeneutisch-ontologische Gerüst erfordert eine eigene zusammenhängende Begrifflichkeit, damit der geschichtliche Geist eines Zeitalters explizit (an und für sich) ausgelegt wird. Die "Bedeutsamkeit" von GA58 wird zum "Begegnischarakter der Welt" (GA63 II. Teil, 4. Kap.)

"Es kommt auf hermeneutische Explikation an, nicht weltli­cher Bericht über das, was »los ist«." (GA63:30) Also kein unendliches soziologisches Projekt im Geist des Positivismus, das das Empirische unendlich erforscht und erzählend aufbereitet und so vor lauter Bäume den Wald nicht sehen kann.
 
Mit diesem fundamentalen Verständnis des Grundphänomens des Da des Daseins kann man sich dann weiter an andere Grundphänomene im geschichtlichen hermeneutisch-ontologischen Gerüst heranwagen, um das je eigene Dasein in seiner vollen Phänomenalität zu explizieren, d.h. auszulegen, z.B. an das Grundphänomen der Wertdinglichkeit, die nach Existenzialien, nicht nach Kategorien ruft. Diese Aufgabe wird gestellt, auch wenn Heidegger selbst dieses phänomenologisch-hermeneutische Problem nie gesehen hat. Die einfachen, alltäglich gegebenen Phänomene sollen die Führung für die Aufgaben des Denkens übernehmen und auch als Prüfstein dienen. Geschieht dies nicht, besteht die große, schon längst eingetretene Gefahr, daß die Auseinandersetzung mit Heideggers Denken in eine Gelehrsamkeit abdriftet, und sich damit in einer bloßen Heidegger-Exegese mit dem ewigen Hin-und-Her der Heidegger-Gelehrten zu verlieren. Heidegger-Exegese — wie die ganze Gelehrtenphilosophie heute überhaupt — ist ein ganz netter Zeitvertreib, aber kein schöpferisches Denken, das etwas wagt.

No comments:

Post a Comment