05 February 2021

Parabel des Selber-Denkens

Die Parabel des Selber-Denkens: Argumentieren oder Aufzeigen?
Zitieren oder die Phänomene selbst in den Blick nehmen?

Vorausgesetzt, ich bin Mathe-Dozent und habe die Aufgabe, Physik-Studierenden die Tensoren-Mathematik beizubringen, damit sie eine Grundlage haben, um die Einsteinsche Allgemeine Relativitätstheorie zu lernen, und später als Physiker zu arbeiten. Die Tensoren-Mathematik ist eine Voraussetzung dafür, mit der berühmt-berüchtigten gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit umzugehen. Daß ich in der Lage bin, so etwas zu tun, setzt wiederum voraus, daß meine Mathe-Lehrer mir diese Sparte der Mathematik beigebracht haben, und ich sie gut gelernt und somit einen echten Einblick habe. Eine weitere Voraussetzung ist, daß die Physik-Studierenden bereit sind, in der bekanntlich schwierigen Sprache der Mathematik Schritt für Schritt mitzukommen, um damit die Tensoren-Mathematik zu lernen, daß sie z.B. nicht abspringen, weil es so schwierig ist, der Mathe zu folgen. Man muß ja jeden Schritt des Lehrers mitverfolgen, d.h. für sich selbst klar machen, um überhaupt einen Einblick in gekrümmte Geometrien zu erhalten. Das ist nicht bloß eine Sache des 'Argumentierens' oder des 'zwingend logischen Beweisens', sondern des Einsicht-gewinnens. Alle Didaktik ist Autodidaktik.

In meinem Unterricht muß ich über den Erfinder der Differentialgeometrie, den früh verstorbenen, deutschen Mathematiker Bernhard Riemann, kein Wort verlieren. Ich kann mich nicht auf seine Autorität als Experte und Erfinder der Tensorenmathematik
um 1854 berufen, um meinen Studierenden zu überzeugen, mir zu glauben. Es nützt auch nichts, aus Riemanns Schriften zu zitieren, oder ihn als Quelle anzugeben. Nein meine Studierenden müssen selber die Tensorensprache lernen, sich mühsam aneignen, und dadurch Einsicht in diese merkwürdigen gekrümmten Geometrien gewinnen. Mit dieser gewonnenen Einsicht erlangen sie auch ihre geistige Unabhängigkeit von mir, ihrem Lehrer, und können fortan in allen Fragen der gekrümmten Raumzeit selbständig ihre Lösungen zu physikalischen Problemen in der Allgemeinen Relativitätstheorie und moderner Kosmologie suchen. 

Nun bin ich aber nicht mathematisierter Physiker, sondern Phänomenologe und philosophiere phänomenologisch. Die
Phänomenologie habe ich als Methode (und nicht als inhaltliche philosophische 'Position') über viele Jahre gelernt von meinen Lehrern, in erster Linie Hegel und Heidegger: die Phänomene selber sehen zu lernen und diese Sichtweise einzuüben. Der Blick auf die Phänomene selbst soll als der Prüfstein auf meinen Denkwegen dienen und eben nicht die Unterstützung von autoritativen Quellen. Die phänomenologische Denkweise habe ich verschiedentlich angewendet, um Marx, Platon, Aristoteles, Hegel, Heidegger u.a. in einem anderen kritischen Licht, nämlich von den Phänomenen her, zu sehen, und somit ihr Denken für mich anzueignen, auszulegen und weiterzudenken. In meiner Auseinandersetzung mit den modernen Wissenschaften philosophiere ich auch phänomenologisch. Z.B. in der Auseinandersetzung mit der Wirtschaftswissenschaft stelle ich die Frage: Was ist Geld? bzw. Was ist die Seinsweise des Geldes? Und in der Auseinandersetzung mit der mathematisierten Physik stelle ich die Frage: Was ist Bewegung und Zeit?

Auf meinen Denkwegen argumentiere ich nicht, sondern versuche, sehr einfache, elementare Phänomene dadurch aufzuzeigen, daß ich die vielen Verdeckungen, die sich über die Jahrhunderte und -tausende aufgehäuft haben und den Blick verstellen, abtrage. Die meisten Verdeckungen rühren daher, daß die in Frage stehenden Phänomene Seins- bzw. Anwesensweisen sind und eben nicht Seiendes bzw. Anwesendes. Kurz gesagt, ich 'argumentiere' nicht etwa von einer Heideggerschen Position her, und ich berufe mich nicht auf irgendwelche Philosophennamen als autoritative Quellen, um meine 'Position' und 'Ansicht' zwingend-argumentativ zu untermauern und zu sichern. So zu argumentieren ist Gelehrtengeschäft und eben nicht Philosophieren. Ich kopiere auch nicht heimlich Gedanken aus irgendwelchen Quellen. Ich habe meine Gedanken nicht 'irgendwoher', was sowieso nichts nützt. Vielmehr versuche ich auf einem mitvollziehbaren Denkweg, die einfachsten
und deshalb schwierigsten, unscheinbarsten Phänomene für mich und andere aufzuzeigen, z.B. das Phänomen des Wer gegenüber dem des Was, oder das Phänomen der Zeit (des Anwesens selbst), das sich seit den Anfängen des westlichen Denkens als eines der schwierigsten zu sehenden Phänomene erwiesen hat, eben weil es anscheinend so selbstverständlich einfach ist! Bis heute gilt die Zeit als eindimensional linear, und zwar abgesehen davon, ob diese Linie als gerade oder als kreisförmig vorgestellt wird.

Ob einer oder eine auf meinen verschiedenen Denkwegen mitkommt, liegt nicht in meiner Hand. Viel bequemer ist es, bei der gelehrten Doxographie zu bleiben. Meine angebotenen Denkwege scheinen wegen der Einfachheit des jeweiligen Phänomens abstrakt, d.h. sie haben wenige Bestimmungen und sind damit nicht konkret zusammengewachsen, sondern freigelegt. Das wirkt abschreckend
besonders in unserem positivistischen Zeitalter, in dem das angeblich Konkret-Empirische stets Trumpf ist. Das Empirische als das A posteriori kommt jedoch immer zu spät, nachdem die Welt bereits a priori im Denken entworfen ist. Das aber ist eine Chance für Wagemutige!

Weitere Lektüre: Das Ende der Wissenschaft und der Anfang der Weisheit.



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