Die Parabel des Selber-Denkens: Argumentieren oder Aufzeigen? 
Zitieren oder die Phänomene selbst in den Blick nehmen?
Vorausgesetzt, ich bin Mathe-Dozent und habe die Aufgabe,
        Physik-Studierenden die Tensoren-Mathematik beizubringen, damit
        sie eine Grundlage haben, um die Einsteinsche Allgemeine
        Relativitätstheorie zu lernen, und später als Physiker zu
        arbeiten. Die
          Tensoren-Mathematik ist eine Voraussetzung dafür, mit der
          berühmt-berüchtigten gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit
          umzugehen.  Daß ich in der Lage bin, so etwas zu tun,
        setzt wiederum voraus, daß meine Mathe-Lehrer mir diese Sparte
        der Mathematik beigebracht haben, und ich sie gut gelernt und
        somit einen echten Einblick habe. Eine weitere Voraussetzung
        ist, daß die Physik-Studierenden
          bereit sind, in der bekanntlich schwierigen Sprache der
          Mathematik Schritt für Schritt           mitzukommen, um damit die Tensoren-Mathematik
zu lernen, daß sie z.B. nicht abspringen, weil
          es so schwierig ist, der
              Mathe zu folgen. Man muß ja jeden Schritt
          des Lehrers mitverfolgen, d.h. für sich selbst klar machen, um
          überhaupt einen Einblick in gekrümmte Geometrien zu erhalten.
          Das ist nicht bloß eine Sache des 'Argumentierens' oder des 'zwingend logischen Beweisens', sondern des Einsicht-gewinnens. Alle
          Didaktik ist Autodidaktik.
          
          In meinem Unterricht muß ich über den Erfinder der
          Differentialgeometrie, den früh verstorbenen, deutschen
          Mathematiker Bernhard Riemann, kein Wort verlieren. Ich kann
          mich nicht auf seine Autorität als Experte und Erfinder der
          Tensorenmathematik um
              1854 berufen, um meinen Studierenden zu
          überzeugen, mir zu glauben. Es nützt auch nichts, aus Riemanns
          Schriften zu zitieren, oder ihn als Quelle anzugeben. Nein —
        meine Studierenden müssen
          selber die Tensorensprache lernen, sich mühsam aneignen, und
          dadurch Einsicht in diese merkwürdigen gekrümmten Geometrien
          gewinnen. Mit dieser gewonnenen Einsicht erlangen sie auch
          ihre geistige Unabhängigkeit von mir, ihrem Lehrer,
          und können fortan in allen Fragen der gekrümmten Raumzeit
          selbständig ihre Lösungen zu physikalischen Problemen in der Allgemeinen
            Relativitätstheorie und moderner Kosmologie suchen.  
          
          Nun bin ich aber nicht mathematisierter Physiker, sondern Phänomenologe und philosophiere
          phänomenologisch. Die Phänomenologie
            habe ich als Methode (und nicht als
          inhaltliche philosophische 'Position') über viele Jahre
          gelernt von meinen Lehrern, in erster Linie Hegel und
          Heidegger: die Phänomene selber sehen zu lernen und diese Sichtweise einzuüben. Der Blick auf die Phänomene selbst soll als der Prüfstein auf meinen Denkwegen dienen und eben nicht die Unterstützung von autoritativen Quellen. Die
          phänomenologische Denkweise habe ich verschiedentlich angewendet, um Marx, Platon, Aristoteles, Hegel, Heidegger u.a. in einem anderen kritischen Licht, nämlich von den
          Phänomenen her, zu sehen, und somit ihr Denken für mich
          anzueignen, auszulegen und weiterzudenken. In meiner
          Auseinandersetzung mit den modernen Wissenschaften
          philosophiere ich auch phänomenologisch. Z.B. in der
          Auseinandersetzung mit der
              Wirtschaftswissenschaft stelle ich die Frage: Was ist Geld?
              bzw. Was ist die
                      Seinsweise des Geldes?
              Und in der
                  Auseinandersetzung mit der mathematisierten Physik stelle ich die Frage:
              Was ist Bewegung und Zeit? 
              
            Auf meinen Denkwegen argumentiere ich nicht,
          sondern versuche, sehr einfache, elementare Phänomene dadurch
          aufzuzeigen, daß ich die vielen Verdeckungen, die sich über
          die Jahrhunderte und -tausende aufgehäuft haben und den Blick verstellen,
          abtrage. Die meisten Verdeckungen rühren daher, daß die in
          Frage stehenden Phänomene Seins- bzw. Anwesensweisen sind und
          eben nicht Seiendes bzw. Anwesendes. Kurz gesagt, ich
          'argumentiere' nicht etwa von einer Heideggerschen Position
          her, und ich berufe mich nicht auf irgendwelche
          Philosophennamen als autoritative Quellen, um meine
          'Position' und 'Ansicht' zwingend-argumentativ zu untermauern und zu
          sichern. So zu argumentieren ist Gelehrtengeschäft und eben nicht Philosophieren. Ich kopiere auch nicht heimlich Gedanken aus irgendwelchen
          Quellen. Ich habe meine Gedanken nicht 'irgendwoher', was sowieso nichts nützt.
          Vielmehr versuche ich auf einem mitvollziehbaren Denkweg, die
          einfachsten — und deshalb schwierigsten, unscheinbarsten — Phänomene für mich
          und andere aufzuzeigen, z.B. das Phänomen des Wer gegenüber
          dem des Was, oder das Phänomen der Zeit (des Anwesens selbst),
          das sich seit den Anfängen des westlichen Denkens als eines
          der schwierigsten zu sehenden Phänomene erwiesen hat, eben
          weil es anscheinend so selbstverständlich einfach ist! Bis heute gilt die Zeit als eindimensional linear, und zwar abgesehen davon, ob diese Linie als gerade oder als kreisförmig vorgestellt wird.
          
          Ob einer oder eine auf meinen verschiedenen Denkwegen
          mitkommt, liegt nicht in meiner Hand. Viel bequemer ist es, bei der gelehrten Doxographie zu bleiben. Meine angebotenen Denkwege scheinen wegen der
          Einfachheit des jeweiligen Phänomens abstrakt, d.h. sie haben
          wenige Bestimmungen und sind damit nicht konkret
          zusammengewachsen, sondern freigelegt. Das wirkt abschreckend
— besonders in unserem positivistischen Zeitalter, in dem das
          angeblich Konkret-Empirische stets Trumpf ist. Das Empirische als das A posteriori kommt jedoch immer zu spät, nachdem die Welt bereits a priori im Denken
              entworfen ist. Das aber ist eine Chance für Wagemutige!
Weitere Lektüre: Das Ende der Wissenschaft und der Anfang der Weisheit.
              
              
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