05 February 2021

Wer sind wir?

Ein neulich veröffentlichter Aufsatz zur 'Globalisierung der Solidarität' von Holger Zaborowski spricht die Solidarität an als eine ausgesprochen affirmative Form des 'Wir'-Phänomens. Das Wir-Phänomen bietet oft genug einen traurigen Anblick. So erhebt sich die einfache Frage: Wer sind wir? Diese besteht aus nur drei Worten, woraus sich drei weitere Fragen ergeben:
Was heißt 'sind'?
Was heißt 'wir'?
Was heißt 'wer'?

'Sind' ist eine Beugung des Zeitworts 'Sein'. Damit kann die erste Frage mit: Was heißt 'sein'? ersetzt werden. Seit den Anfängen des westlichen Denkens mit den Griechen besagt Sein Anwesen, vom Lateinischen her: Präsenz, griechisch _ousia_. Um 'wir sind' vom Anwesen her zu sagen, ist es notwendig, das Anwesen verbal zu denken: 'Wir sind' besagt demnach: 'Wir wesen an', wobei das Wir auf eine Pluralität von zwei oder mehr hinweist. Im Anwesen steckt aber auch ein Hinweis auf die Zeit. Als Verb gedacht ist 'anwesen' das Verb bzw. Zeitwort schlechthin: 'Wir wesen an in der Zeit'. Wir alle, die wir in dieser heutigen Zeit anwesen, sind damit Zeit-Genossen, und können es auch nicht anders sein, denn wir heute Lebenden nehmen alle an unserer Zeit teil. Wir haben da keine Wahl. Somit ergibt sich eine erste, Alle umfassende, schwache Form bzw. anblickhafte Erscheinungsweise des Wir-Phänomens. Denn die Tatsache, daß wir Zeit-Genossen alle an der Zeit teilnehmen und nur als solche Teilnehmenden anwesen können, heißt keineswegs, daß wir miteinander global oder auch lokal miteinander solidarisch sind. Nichtsdestoweniger als Zeitgenossen nehmen wir alle am Geist der Zeit teil als auch an ihren verschiedenen Stimmungen. Wir sind so oder so gestimmte Teilnehmer am heutigen Zeitgeist und verstehen diesem Zeitgeist gemäß alles, was in dieser Zeit für uns anwest, so oder so bis hin zum völligen Miß- und Unverständnis. Daß wir Zeitgenossen alle die Welt aus der Verstehensweise unserer Zeit verstehen, heißt keineswegs, daß uns alle gegenseitig verstehen und die gleichen Ansichten teilen.

Die heutige Zeit gehört aber zu einem Zeitalter, das von einigen das wissenschaftliche Zeitalter genannt wird, wobei eigentlich 'naturwissenschaftlich' gemeint ist, besonders in der englischsprachigen Welt. Dieses wissenschaftliche Zeitalter, auch Neuzeit benannt, hebt spätestens im 17. Jh. an und erhält sein auffälligstes Gepräge und seine zukunftsweisende Blaupause von einem Boten des Zeitalters Namens Descartes, der mit seinem "cogito ergo sum" das moderne zugrundeliegende Subjekt mit seinem inneren Bewußtsein gegenüber einer äußeren objektiven Welt setzt. Somit ist unser heutiger Geist vom Geist des 17. Jh. geprägt, obwohl das 17. Jh. heute abwest, d.h. als abwesend anwest bzw. gewesen ist. Gewesenheit heißt nicht Vergangenheit. Gleichwohl wesen aber auch künftige Generationen bei uns in unserer heutigen Zeit als noch abwesende an. Die beiden Weisen des Abwesens von einer gewesenen oder einer künftigen Zeit her gehen uns heute an, sind so auf diese Weise anwesend, und in unserem geteilten Geist bewegen wir uns individuell vergegenwärtigend und mehr oder weniger geistesgegenwärtig ständig hin und her durch diese drei voneinander unabhängigen aber ineinander reichenden zeitlichen Dimensionen. Unsere mentale Präsenz bzw. unser geistiges Anwesen ist demnach notwendig miteinander geteilt und zeitlich dreidimensional. Wie der gestimmte Geist unseres Zeitalters entworfen und geprägt ist, prägt auch uns, und zwar individuell, auch wenn dieser Geist und die Stimmungen noch unzählige mögliche Sicht- und Schwingweisen anbieten. Soviel erst mal zu den Fragen, Was heißt Sein? und Was heißt Wir?

Die dritte einfache Frage lautet: Was heißt Wer? In der westlichen Denktradition seit den Griechen und bis heute hat eine andere Frage den entschiedenen Vorrang, nämlich: Was heißt Was? Das Wassein stand im Brennpunkt des philosophischen Fragens seit Anfang an — als _ousia_, als essentia, als Wesen, wobei die leisen Anspielungen an das Phänomen Zeit stets heruntergespielt wurden. Z.B. wurde das Menschenwesen entworfen als _to zoion logon echon_, d.h. als das Tier, das mit der Sprache bzw. Vernunft begabt ist, oder in unserem Zeitalter als das Tier, das mit einem kogitierenden inneren Bewußtsein sowie einem Unbewußten dahinter ausgestattet ist. Das Tiersein selbst war auch eine Frage des Wasseins, und heute noch verstehen wir uns wissenschaftlich als eine Spezies von Tier. Für den Menschen als Subjekt sind Bewußtsein und Unbewußtes innen verortet, während die hier angesprochene dreidimensionale Zeit 'vorortlich' bzw. 'vorräumlich' ist und die Lichtung bietet, worin alles Mögliche für uns erst an- und abwesen und z.T. auch einen ausgedehnten räumlichen Ort einnehmen kann. Die Gaben von Vernunft bzw. Bewußtsein sind vom Zeitgeist in einer geschichtlichen Zeit gegeben, und bisher sind diese Gaben als Bestimmungen des Menschseins Prägungen des Wasseins und eben nicht des Werseins. Als der Lichtung der dreidimenionalen Zeit ausgesetzt hingegen sind wir bzw. unsere miteinander geteilte Psyche die Zeit selbst. Die so gedachte Psyche ist weder Bewußtsein noch das Unbewußte.

Sofern wir alle am Zeitgeist nolens volens teilnehmen, können wir auch nicht anders denken, und somit den Menschen nicht anders als ein mit Bewußtsein begabtes Subjekt denken, es sei denn, daß das Denken zu einem radikalen, in-Frage-stellenden Denken wird, das die einfachsten, anscheinend trivialsten, übersprungensten Fragen hinsichtlich der elementarsten Phänomene stellt. Es macht auch keinen Sinn zu fordern, daß wir anders denken sollen, wenn wir dies nicht können, und wir können auch nicht anders denken, solange der Zeitgeist unseren Geist in diesem Zeitalter frag- und widerstandslos gefangen hält.

Wer sind wir aber als Wer? Oder: wie wesen wir in der Zeit als Wer an? Als Wer nehmen wir alle jeweils an unserer Zeit teil, indem auch wir in ihrer Offenheit füreinander anwesen. Wir präsentieren uns unseren Zeitgenossen und uns selbst, jeweils als wer wir sind und geworden sind. Solches Präsentieren bzw. Anwesen ermöglicht unser jeweiliges Sichzeigen in einem Anblick bzw. Sichverbergen in einem privativen Anblick, der von anderen und auch uns selbst eingeschätzt wird. Ob wertgeschätzt oder abschätzig von anderen eingeschätzt, hochgeschätzt oder unterschätzt, nehmen wir alle so oder so an diesem gegenseitigen Wertschätzspiel in unserer miteinander geteilten Zeit teil. Dabei schätzen wir auch auf uns selbst reflektierend unseren jeweilig erreichten Selbst-Stand ein in einem Spektrum von Selbstüberschätzung bis zur Selbstunterschätzung. Der Wille zum Selbst-Stand ist vertikal ausgerichtet, oft genug auf einen möglichst hohen, tumeszenten Werstand, zu dem andere hinaufblicken.

Die Spielarten des Wertschätzspiels, in dem wir jeweils zum Stehen oder Fallen als Wer kommen, und so einen Wer-Status genießen oder nicht, sind äußerst vielfältig und unvorhersehbar. Sie sind gutartig oder bösartig, fair or foul, je nachdem, wie wir uns gegenseitig schätzen, insbesondere wie wir unsere jeweiligen Fähigkeiten bzw. Kräfte und damit, was wir füreinander in der Fürsorge tun können, gegenseitig einschätzen und wertschätzen. Das gegenseitige Wertschätzspiel kann demnach füreinander, miteinander, gegeneinander oder aneinander vorbei gespielt werden. Letzteres zeigt sich im Phänomen der Gleichgültigkeit, das am anderen Ende des Spektrums der Spielarten des Wertschätzspiels zu der im obengenannten Aufsatz angesprochenen Solidarität liegt.

Damit ist die Phänomenalität des Wir- bzw. Wer-seins erst grob skizziert. Noch kein Wort zum Wertschätzspiel im fetischisierenden Medium des verdinglichten Werts, das ich das Gewinn-Spiel nenne, und eine merkwürdige Verkehrung von Wer und Was sowie die Globalisierung des Spiels erst ermöglicht. Und zu vielem mehr. Aber soviel für heute.

Weitere Lektüre: Social Ontology of Whoness.

Kapital und Technik.

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