Die Neuzeit und die Andere Zeit - diese Überschrift soll nicht nur zwei geschichtliche Epochen, sondern auch zwei wesentlich verschiedene Zeitauffassungen anzeigen — nicht, daß ich mir einbilde, die vorherrschend wissenschaftlichen Denkweisen der Neuzeit könnten oder auch sollten einfach durch eine andere Denkweise abgelöst, überwunden werden. Die vorherrschende Zeitauffassung ist keine beliebige, untergeordnete Begriffsbestimmung, die historisch etwa in der Philosophie- oder Wissenschaftsgeschichte durch Gelehrte erforscht werden könnte, sondern geht genau so tief wie die epochale Seinsauffassung, d.h. die Frage nach dem Sein. Diese Frage bewegt das philosophische Denken seit den griechischen Anfängen und liegt der ganzen westlichen Geschichte auf unscheinbare Weise zugrunde.
Erst seit Heidegger ist die Frage nach dem Sein selbst zu einer echten,expliziten Frage geworden, denn bis Heidegger war der Sinn des Seins seit zweieinhalb Jahrtausenden von der Philosophie stillschweigend implizit — und so ungedacht — vorausgesetzt. Der Sinn des Seins selbst, d.h. seine Bedeutung, ist aber die Zeit. Wieso? Weil die Philosophie bis Heidegger -- und freilich hartnäckig auch nach ihm -- Metaphysik bleibt, die stets nur die Frage nach der Seiendheit des Seienden von Platon bis in unsere Tage etwa bei Deleuze verschiedentlich beantwortet. Dabei wird stets gedankenlos vorausgesetzt, daß das Sein des Seienden irgendeine Art der Anwesenheit, d.h. irgendeine Weise der Anwesung —ob ständig oder sonstwie unständig, etwa 'different' — ist. In der Anwesenheit liegt aber unweigerlich ein Verweis auf die Zeit selbst, dem Heidegger nachgegangen ist.
Was aber ist die Zeit selbst? Seit Aristoteles wird die Zeit vom anwesenden Jetzt aus als das gezählte Nacheinander von Jetzt-Momenten begriffen. Das gegenwärtige Jetzt wird dabei als existierend, seiend verstanden, während das kommende Jetzt als noch nicht und das vergangene Jetzt als nicht mehr existent, d.h. seiend, verstanden werden. Hier liegt offenbar ein circulus vitiosus vor, denn, wenn das Sein selbst implizit Anwesenheit bedeutet, und die Zeit selbst vom gegenwärtig-anwesenden Jetzt als seiend her bestimmt wird, geht der zeitliche Charakter des Seins selbst unter zugunsten eines konfusen, unhinterfragten Im-Kreise-gehens, wobei das 'ist' ein leeres Wort, eine bloße Kopula bleibt. Erst mit Heidegger ist dieser Kreis endlich und endgültig durchbrochen, selbst wenn die Philosophien jedweden Couleurs seit der Veröffentlichung von Sein und Zeit 1927 mit aller Kraft sich dagegen sträuben, diese Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen, und sogar versuchen, die Frage selbst als verfehlt, lächerlich oder 'politisch gefährlich' zu desavouieren. Die heutigen (analytischen oder Kontinentalen) Philosophien und Philosophen selbst formieren sich zu einem repressiven Apparat, um den Deckel auf eine fundamentale philosophische Frage zu halten.
Warum aber bloß? Weil das Zurückgehen hinter den seit Jahrtausenden geltenden Auffassungen von Sein und Zeit mit einer grundlegenden Erschütterung des Weltverstehens insgesamt droht, die insbesondere und vor allem den neuzeitlichen wissenschaftlichen Zugang zur Welt als wesenhaft verengend in Frage stellt und sogar aus der Bahn werfen könnte. Wieso verengend? Weil die moderne Wissenschaft egal welcher Art nur Wissenschaft sein kann, solange sie an der Wirkkausalität in irgendeiner Variante bis hin zu sog. 'emergenten Strukturen' aus chaotischer Komplexität festhält. Sonst kann sie gar nichts erklären, und was wäre eine Wissenschaft ohne ihre Erklärungskraft? Eine Wissenschaft muß wesenhaft darauf aus sein, die Bewegungen bzw. Änderungen des kommenden und gehenden Seienden jedweder Art in der Welt kausal zu erklären. damit man wissenschaftlich weiß, woran man ist, und möglichst solche Bewegungen von Seiendem wirksam beherrschen oder zumindest vorhersagen kann.
Die Wirkkausalität jedoch setzt die lineare Zeit eines Nacheinanders von Jetzt-Momenten voraus, wobei freilich das Jetzt der wissenschaftlich-empirischen Feststellung den unbedingten Vorrang hat. Über Dinge, die noch nicht geschehen sind, kann man keine wissenschaftliche Feststellung treffen, sondern höchstens indirekt vermittels einer voraussagenden Theorie entlang der linearen Zeit anhand gegenwärtiger Daten. Und zu Dingen, die einmal in der Vergangenheit geschehen sind, hat man nur vermittelt über faktisch noch anwesende Spuren wie etwa erhaltene Dokumente, archäologische Funde, festgehaltene elektromagnetische Strahlungen und dergl. wissenschaftlichen Zugang. Der wissenschaftliche Blick richtet sich stets auf das, was in der Gegenwart vom Kommen und Gehen des Anwesenden festgehalten, registriert werden kann, und baut ihre Erklärungen anhand von in der Gegenwart gesammelten Datenpunkten auf. Wenn sie dies nicht tut, wird ihr unweigerlich unwissenschaftliche Spekulation und — quel horreur! — Unwirksamkeit vorgeworfen.
Die Zeit der Neuzeit ist also die (mathematisierte) lineare Zeit, die der Wirkkausalität dient. Und die Zeit der Anderen Zeit? Hier öffnet sich die Zeit vom Nacheinander der festgestellten, gezählten Jetzt-Momente der Uhr-Zeit, um endlich die Ur-Zeit einer dreidimensionalen Zeit-Lichtung in den Blick zu bekommen, worin auch die beiden Dimensionen der Abwesenheit, d.h. der Zukunft und der Gewesenheit, im freien Spiel zugelassen sind. So erhalten die traditionell negativen metaphysischen Bestimmungen des Noch-nicht und des Nicht-mehr — d.h. des Nicht-seienden — positive Bestimmungen des Vorenthalts bzw. der Verweigerung, denn es ist überhaupt nicht schwer zu sehen, daß die Abwesenheit in ihren beiden Spielarten nicht nichts ist. D.h. wir Menschen sind auch der Verweigerung sowie dem Vorenthalt der Anwesung ausgesetzt und so von ihnen positiv angegangen. Sonst könnten wir nichts erwarten, und es könnte uns nichts fehlen. So wird die Zeit zum Offenen einer Lichtung, in der das Spiel der An- und Abwesung von Anwesendem spielt und so auch der Herrschaftsansprüche der Wirkkausalität entkommt. Damit erweitert sich der Blick auf die Welt, und das Seiende zeigt sich nicht nur als gegenwärtig Anwesendes, sondern auch als verweigertes oder vorenthaltenes Abwesendes, d.h. als in einer der drei zeitlichen Dimensionen Vorkommendes überhaupt.
Das Vorkommende kann sich dementsprechend außerhalb des engen wissenschaftlichen Blicks auch anders blicken lassen. Das Sich-anders-zeigen aber ist dasselbe wie ein anderes Denken, wodurch auch die Welt anders wird, denn die vorherrschenden hermeneutischen Als, wodurch alles Vorkommende gedeutet wird, erweitern sich auch mit der Erweiterung der linearer Zeit auf die offene Zeit-Lichtung. Diese hermeneutischen Als sind die ontologischen Bausteine der Welt, ihr hermeneutisches Gerüst, wodurch sich das Vorkommende in der Welt anders, einfacher zeigt. Der ontologische Wiederaufbau der Welt kann ohne eine grundsätzliche Erweiterung des Zeitverständnisses nicht einmal anfangen, denn jede Variante der Metaphysik einschließlich etwa der grammatologischen Derridaschen Kritik einer sog. "Metaphysik der Präsenz" bleibt trotz allen Scheins der Fortgeschrittenheit letztlich von einem traditionellen linearen bzw. einem ungeklärten und durchaus verworrenen Zeitverständnis im Alten befangen,
Das verstehe ich — kurz gesagt — unter der geschichtlichen Möglichkeit einer Anderen Zeit. Dann können sich die Phänomene anders zeigen und so auch verstanden werden, und mancher Schein — einschließlich des Scheins der Wissenschaftlichkeit etwa in den Sozialwissenschaften — wird zugunsten eines Wert-Schätz-Spiels durchschaut. Erst dies ermöglicht wiederum ein anderes Handeln — auch politisch — in der Welt. Zunächst einmal jedoch muß eingesehen werden, daß für uns Heutige in einer Übergangs-Zeit das Denken selbst insofern ein Handeln ist, als es durch seine Empfänglichkeit für einen anderen Entwurf des Vorkommenden als solchen ein anderes Sichpräsentieren in der Zeit-Lichtung einer Anderen Zeit erst ermöglicht.
Vgl dazu 'Out of your mind: Parmenides' message' sowie 'Being Time Space'.
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