15 September 2025

Verdingt und trotzdem frei?

Ein Hauptbegriff des späten Marx und vielleicht sogar der Kernbegriff seiner Kritik der politischen Ökonomie in Das Kapital ist bekanntlich der verdinglichte Wert. Warum von so etwas wie einer Verdingung von Mensch und Natur beim sich verwertenden Wert überhaupt die Rede sein soll, wird weiter unten erläutert. Marxens Kritik lese ich nicht lediglich auf konventionelle Weise als eine Kritik der bestehenden, praktischen, politischen, gesellschaftlichen Verhältnisse (die politisch umgewälzt werden sollten), sondern schon zuvor als Kritik an der Denkweise, in der wir alle gefangen sind, und in der wir im sogenannten Kapitalismus bzw. Spätkapitalismus leben. So gelesen ist die Kritik eine phänomenologische Ideologiekritik — nicht unverwandt mit der Hegelschen Phänomenologies des Geistes —, die darauf zielt, die Wahrheit über unsere kapitalistische Gesellschaft bloßzulegen. 

Dies ist um so schwerer, als nicht nur die Klasseninteressen der verschiedenen Sorten von Kapitalisten (grob gesagt die Bezieher von den verschiedenen Anteilen von Bruttoprofit, der in Zinsen, Grundrente und Unternehmergewinn aufgeteilt ist) im Wege stehen, sondern bereits vorgängig unsere nicht ganz unbegründete Überzeugung, daß unsere persönliche, individuelle Freiheit von diesen 'bestehenden Verhältnissen' abhängt. Denn die Parole der 'Freien Welt' ist nicht bloß Augenwischerei, sondern hat auch einen gewissen Wahrheitskern, der freilich die häßliche Seite dieser Wahrheit verdeckt. (Das Bewegungsprinzip dieser Freien Welt ist nämlich zutiefst lebensfeindlich.) Marxens Rede von den modernen Subjekten als bloßen Trägern von gesellschaftlichen Verhältnissen und als possenhaften Charaktermasken ist keine billige Polemik.

Ich habe versucht, der täuschenden Ambiguität in der Wahrheit über den Kapitalismus zu begegnen und begrifflich zu fassen mit der Unterscheidung zwischen dem Gewinnspiel auf der Oberfläche der Gesellschaft einerseits und der darunterliegenden unendlichen Verwertung des verdinglichten Werts andererseits. Der Liberalismus kann verstanden werden als die Denkart bzw. Ideologie, die versucht, die moderne Gesellschaftsform als von dem freien und fairen Spiel der individuellen Subjekte getragen zu denken. Jedes versucht allein oder mit anderen zusammen Schmied seines eigenen Glücks zu werden. Da das Spiel oft und vielleicht sogar in der Regel hart und unfair gespielt wird, bemüht sich die liberale Gesellschaft durch ihren demokratischen Staat vor allem darum, das Interplay im Gewinnspiel in den Bahnen der Fairneß zu halten. Vor allem der Machtkampf über die Aufteilung des gesamtgesellschaftlichen Einkommens muß durch Kompromisse geschlichtet werden. Diese Aufteilung soll mehr oder weniger fair sein, hängt aber davon ab, wer im Gewinnspiel momentan die Oberhand hat. Die darunterliegende Verwertungsbewegung des Mediums des verdinglichten Werts, die sich hinter den Rücken der Spieler als eisernes Gesetz durchsetzt, wird dabei gar nicht gesehen. Daß es ein solch globales Bewegungsgesetz gibt, wird als blanke Ideologie abgetan. Man hält sich an die harten Fakten, um die globale ökonomische Bewegung wirtschaftswissenschaftlich zu erklären, und kann seit dem Sieg der positivistisch-empirischen Wissenschaften über den philosophischen Geist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch nichts anderes tun.

Insofern ist davon auszugehen, daß das Interesse an der Frage, ob der Marxsche Begriff des verdinglichten Werts in verdingenden Wert umbenannt werden soll, gering ist. Vielleicht haben beide Bezeichnungen jeweils ihre Berechtigung. Marxens große Leistung in Das Kapital ist es, den Wertbegriff als tragenden Begriff des Ganzen zu setzen. Alle Hauptbegriffe von Ware und Geld über Kapital und Arbeitskraft und (absoluten und relativen) Mehrwert bis hin zu Zinsen und Grundrente sind Wertbegriffe, die es zusammen erlauben, das ganze kapitalistische Wirtschaftsgeschehen als eine antagonistische Bewegung von sich transformierenden verdinglichten Wertformen zu begreifen. Denn Ware, Geld, Arbeitslohn, Kapital, Profit, Zinsen, Grundrente, Unternehmergewinn u.v.m. sind alle Wertdinge. Die ganze Bewegung findet statt um der endlosen Vermehrung des sich verwertenden Mediums willen, wobei das Verwertungsmedium selbst seine verdinglichte Erscheinungsform wie Proteus ständig verwandelt, aber das Medium selbst 'flüssig' bleibt. Insofern wäre es angemessen, von dem Medium selbst als (die verschiedenen Wertformen) verdinglichend eher als verdinglicht zu reden.

Die deutsche Sprache besitzt auch die Verben 'verdingen' und 'dingen'. Man könnte sagen, daß das Medium des verdingenden Werts die verschiedenen verdinglichten Wertformen 'in den Dienst nimmt' (und somit dingt) um seiner eigenen Verwertung willen. Umgekehrt durch die verdinglichte Einkommensform des Arbeitslohns verdingen wir uns Menschen selbst beim sich verwertenden Vergesellschaftungsmedium. Zudem könnte man sagen, daß das Medium des verdinglichenden Werts die neuzeitlichen Wissenschaften und die darauf basierende moderne Technik gedungen (gedingt) hat um der Verstärkung und Vergrößerung seiner eigenen Verwertungsbewegung willen. Oder anders herum: die Wissenschaft und die Technik hat sich beim Medium des verdinglichenden Werts um der Verwertungsbewegung des Mediums willen verdingt; sie sind in seinen Dienst vor allem als Produktivitätssteigerer und Umschlagsbeschleuniger getreten. Auf der Oberfläche der Gesellschaft jedoch erscheint diese Steigerung und Beschleunigung lediglich als notwendige Folge des harten Konkurrenzkampfes im Gewinnspiel. Im Grunde weiß 'man' überhaupt nicht, warum die Zeiten immer hektischer werden, sondern 'man' redet etwa bloß vom 'Preis des Fortschritts' und dergleichen.

Wir modernen individualisierten Subjekte leugnen die tieferliegende, beunruhigende Wahrheit des 'Spätkapitalismus' und wähnen uns als frei, obwohl wir schon längst zu bloßen Spielern im Gewinnspiel mit sehr verschiedenen Erfolgschancen degradiert worden sind. Wir haben keine Einsicht darein, daß das verdinglichende Medium uns sowohl assoziiert als auch dissoziiert. Dieses Assoziieren ist eine spezifische geschichtliche Weise der Vergesellschaftung, zumal das Medium uns auch (vermittelt) als individuelle Privateigentümer dissoziiert, die ihre individuelle Freiheit vor allem als Verbraucher von Zahnpasta bis hin zu Immobilien genießen. 

Wir bleiben — zumindest so lange das Einkommen genügt — selbstzufrieden und -gefällig und sehen überhaupt keine Notwendigkeit, uns über unser geschichtliches Schicksal als Bewußtseinssubjekte Gedanken zu machen. Alles bleibt beim Alten. Wir machen uns nicht auf den Weg zurückzugehen, um uns zu fragen, wer wir eigentlich in einem anderen geschlichtlichen Entwurf künftig sein könnten. Wer möchte heute überhaupt kontemplieren, daß, statt eines inneren Bewußtseins zu 'haben', wir in Wahrheit ursprünglich der Offenheit der dreidimensionalen Zeit gehören?

Further reading: On Human Temporality: Recasting Whoness Da Capo De Gruyter, Berlin 2024.

Devastation of the Earth

Sustainability? Of what?.

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