Hier einige Notizen zu einem Gespräch im Kölner Philosophischen Forum am 06. Juni 2025.
Ich greife nur eine Frage auf, nämlich Achims Gegenthese zu Hartmut Rosas 'Demokratie braucht Religion': 'Demokratie braucht Philosophie'.
Die Demokratie bezeichnet heute — sehr kurz und skizzenhaft gefaßt — eine politische Verfassung (eine geregelte Weise des gesellschaftlichen Miteinanders), wodurch das Volk selbst die Quelle bzw. Arche der über es ausgeübten Macht sein soll, und zwar dadurch, daß die einzelnen Bürger i) ihre Meinungsfreiheit bezüglich der öffentlichen politischen Angelegenheiten ausüben dürfen wie auch ii) ihre Stimme zur Wahl von Abgeordneten in der gesetzgebenden Institution abgeben können. Die Gesetze wiederum werden letztendlich durch Staatsgewalt durchgesetzt und aufrechterhalten. In der demokratischen Politik geht es um einen Streit der vielen Meinungen darüber, wie die überlegene Staatsmacht ausgeübt werden soll — ein durch die Meinungsfreiheit vermittelter Machtkampf der Bürgermeinungen also, in dem sowohl das Eigeninteresse als auch das Gemeinwohl eine Rolle spielt oder spielen sollte.
In der Philosophie hingegen geht es nicht um Meinungen, sondern um Wahrheit und zuvor schon um die Frage, was überhaupt Wahrheit ist, d.h. die Frage nach dem Wesen der Wahrheit. Bei solchem Fragen wird bereits in Frage gestellt, ob Meinungen wahr sein können, und wenn ja, unter welchen Umständen. Z.B. ist eine Meinung schon wahr, wenn sie richtig ist? Ist eine richtige Meinung wahr, wenn sie begründet werden kann? Ist überhaupt die Wahrheit mit der Richtigkeit von Tatsachen gleichzusetzen? Schon mit solchen Fragen ist ersichtlich, daß die Philosophie vor der Politik mit ihrem Machtkampf der Meinungen liegt. Die Philosophie ist überhaupt vorpolitisch, politische Fragen müssen ausgeklammert bleiben, eben weil wesentliche Fragen vorher geklärt werden müssen, worauf die Politik oder politische Meinungen keine Antworten geben können. Umgekehrt versteht nicht einmal die Politik, ob demokratisch oder nicht , genuin philosophische Fragestellungen. Wenn einer seine 'politische Philosophie' hat, ist zu hinterfragen, ob diese Philosophie auf bloße Meinung und feste Überzeugung hinausläuft oder eher durch ihre Wahrheit eine wohl begründete politische Haltung erst ermöglicht.
Mitten in Platons berühmtem Werk über die Verfaßtheit der Polis — in seiner Politeia bzw. (lateinisch) Res publica VII 514a2-517a7— finden wir das berühmte Höhlengleichnis, in dem gleichnishaft gesagt wird, worum es in der Philosophie geht, nämlich um eine "Umlenkung der ganzen Seele" (περιαγωγὴ ὅλης τῆς ψυχῆς), und zwar vom gefesselten Blick auf die bloßen Tatsachen zum wahren Blick auf die Idee des Guten (ἰδέα τοῦ ἀγαθοῦ). Das Wort 'Idee' kommt vom Griechischen ἰδεῖν, 'sehen'. Eine Idee ist also ein Anblick, den ein Seiendes von sich aus einem Anblickenden bietet, der ihn so oder so versteht bzw. deutet. Welche Seele ist bei dieser totalen Umdrehung gemeint — die Einzelseele oder die Gesamtseele eines Volks bzw. der gesamten Menschheit? Wenn jene, dann ist die Bemühung um die Philosophie eine Bemühung um die Selbstverwandlung, durch die ich lerne, ganz anders zu sehen bzw. zu verstehen, nämlich die Wahrheit der Ideen selbst, die mit der Richtigkeit der Tatsachen nicht verwechselt werden darf. Ich bin dadurch verwandelt, daß ich die Welt durch ein Gefüge von zusammenhängenden Ideen verstehe. Die Welt selbst ist eine andere geworden, eben weil sie von Grund auf anders ausgelegt wird.
Die Bemühung des Philosophierens, diese Differenz und damit die Ideen selbst sehen zu lernen, bestünde demnach in einer Auseinandersetzung mit sich selbst oder, wie Platon sagt, in einem Dialog der Seele mit sich selbst. Die Idee des Guten als höchster Idee sehen zu lernen, ist nicht die Bemühung, eine Vorstellung davon zu bilden, was gut für mich ist, denn dies wäre eine bloße Meinung, bloß meine gegenüber anderen Meinungen. Die Frage nach der Idee des Guten ist zunächst keine inhaltliche, sondern danach, was Gutsein überhaupt heißt. Dasselbe gilt auch für die Idee der Gerechtigkeit, die der Freiheit, die Idee des Menschen, die des Lebens, die der Bewegung, die Idee des Kapitals usw.
Solche Einsichten zu erlangen, ist in erster Linie eine Sache der Selbstauseinandersetzung bzw. des Dialogs mit sich selbst in der 1. Person, gleichsam eins zu eins. Ich muß lernen, alle Vor-Urteile, alle Vor-Begriffe, die den Blick auf die Ideen selber verstellen, wegzuräumen. Es geht nicht um bloß individuelle Ideen bzw. Vorstellungen, sondern um die Seinsweisen von Seiendem. Die Anblicke sind gemeinsame, über deren Deutung wir auch miteinander in einem philosophischen Gespräch reden können, in dem es nicht bloß um Wissenserwerb geht, sondern jeweils auch um Selbst-und-Welt-Verwandlung. Die gemeinsamen bzw. allgemeinen Ideen, wovon gesprochen wird, gehen uns als Einzelne an, und es gibt keine Garantie, daß wir in diesem Gespräch zu einer gemeinsamen Ansicht der Sache selbst kommen.
Nichtsdestoweniger setzen sich in der Geschichte entscheidende Leitideen, wie z.B. die Idee der Gerechtigkeit oder die Idee der Energie, durch. Diese Leitideen sind keine ewigen, unveränderlichen, wie die griechische Philosophie dachte, sondern selbst in einem tiefen Sinn geschichtlich-schicksalhaft.
Ein philosophierender Dialog mit sich selbst oder anderen ist also zu unterscheiden von irgendwelchen Analysen einer faktischen, sachlichen Lage, wie sie z.B. politische Analysten, Soziologen oder Historiker bieten, denn solche können und müssen in der sog. 'objektiven' — etwa auf dokumentierten Fakten basierenden — 3. Person angeboten werden und haben zumeist den narrativen Charakter eines Geschehens. Solche 'Geschichten' können sehr wohl in den demokratischen Medien hin und her diskutiert werden.
Die Differenz zwischen den Tatsachen und den Ideen kann als ontologische Differenz bezeichnet werden, womit auch der wesentliche Unterschied zwischen den modernen Wissenschaften und der Philosophie bestimmt ist. Denn die Ideen bringen das Sein des Seienden auf den ontologischen Begriff, während die modernen Wissenschaften — diese stillschweigend und ahnungslos voraussetzend — von den festgestellten experimentellen bzw. empirisch-gegebenen, ontischen Daten ausgehen, um ihre theoretischen Modelle zu 'verifizieren' oder ihre empirischen Studien durchzuführen, um festzustellen, wie die Lage zur Zeit faktisch ist. Auch dies sind Bemühungen in der 3. Person, die keine Selbstauseinandersetzung bzw. -verwandlung erfordern. Ich bleibe nach wie vor unverändert, wer ich bin, wenngleich etwas kenntnisreicher. Die Welt bleibt im Grunde dieselbe. Hingegen in der Philosophie mache ich eine Bewegung durch, in der, wer ich bin und wie die Welt in Ganzen verstanden wird, sich wandelt.
Insofern braucht die Demokratie, wie sie in modernen (noch) liberalen Gesellschaften gelebt und praktiziert wird, keine Philosophie, und kann sie nicht brauchen, denn sie geht (und muß gehen) von den Menschen, wie sie sind, und ihrem Dafürhalten aus. Es können höchsten ihre Ansichten in politischen Machtkämpfen — z.B. Wahlkämpfen — durch demokratische Debatten und rhetorische Mittel beeinflußt werden. Die Frage nach der Idee des Menschen, d.h. nach dem, was bzw. wer der Mensch ist, kann in der Demokratie oder gar in den Medien als Orten der freien Meinungsäußerung nicht einmal gestellt werden, sondern ist zuvor schon stillschweigend geschichtlich beantwortet und steht fest.
In unserem Zeitalter (der Neuzeit) und schon seit langem, d.h. seit dem ersten Anfang mit dem griechischen Denken, ist die Frage nach dem Wesen des Menschen mit einer Was-Antwort beantwortet. Wir sind entworfen und somit geschichtlich-schicksalhaft geworfen als eine Art Tier, d.h. als eine Spezies (um deren Überleben es angeblich evolutionär geht), auch wenn die nach-Cartesische europäische Philosophie noch gern vom 'Bewußtseinssubjekt' redet. Mit unserer materialistisch vorausgesetzten Basis im Tiersein sind wir heute auf dem besten Weg das, was die Philosophie als νοῦς bzw. Geist bezeichnet, auf die neuronale Tätigkeit des Gehirns zu reduzieren. Bereits heute 'denkt' man so von sich. Die Philosophie hat schon längst ausgedient, während die Neurowissenschaft in Begleitung der rasant aufkommenden KI in der immer weiter um sich greifenden Cyberwelt ihren Siegeszug antritt. Trotzdem ruft die Demokratie heute ohnmächtig nach sog. ethischen Maßstäben bzw. 'Leitplanken'.
Gibt es, gibt Es heute noch die Möglichkeit eines Denkens mit der Kraft, die Frage danach, wer wir als Menschen sind, von einem anderen Anfang aus zu stellen, um damit unser Menschsein geschichtlich anders zu entwerfen? Sind einige von uns in einem Schritt zurück vom festgefahrenen Weltentwurf für ein solches Infragestellen überhaupt empfangsbereit?
Soviel für heute.
Weitere Lektüre: Platon Politeia VII. Buch.
Harmut Rosa Demokratie braucht Religion Kösel Verlag München 2022.
On Human Temporality: Recasting Whoness Da Capo De Gruyter, Berlin 2024.
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