Sascha Erich Albrecht hat 2018 eine Dissertation mit dem Titel Der Geldbegriff zwischen Hermeneutik und Phänomenologie: Eine kritische Auseinandersetzung mit der Moderne zwischen Martin Heidegger, Alfred Sohn-Rethel und Hannah Arendt eingereicht. Der Autor setzt sich kurz mit einer früheren (2000) Arbeit von mir, Kapital und Technik: Marx und Heidegger, auseinander. (Die neueste Fassung dieses Buches ist von 2015.) Das Hauptanliegen meiner Abhandlung ist es, den grundlegenden Unterschied zwischen dem von Heidegger artikulierten Wesen der Technik (dem sog. "Gestell") und dem Wesen des Kapitals herauszuarbeiten, das ich — von einer gewissen phänomenologischen Auslegung der berühmten Marxschen Wertformanalyse ausgehend — als das "Gewinnst" in der früheren Arbeit bzw. als das "Gewinnspiel" in der 2015 Ausgabe begreife. Albrecht lehnt diesen kritischen Ansatz ab. Er schreibt dementsprechend gegen Schluß seiner Arbeit:
"Die vorliegende Untersuchung [die Dissertation] legt jedoch nahe, die Entfremdung im Marxismus nach Sohn-Rethel und Heidegger im Wesentlichen als deckungsgleich auszulegen. Dies ermöglicht erst das Zusammenfügen des Marxschen und Heideggerschen Denkens mit Hinblick auf das Geld als Erkenntnisleistung. Da Eldred im Zuge seiner Grundannahme der Unvereinbarkeit der Entfremdung bei Heidegger und Marx dieser Weg versperrt bleibt, sieht er das Geld als Mittel, durch das der Mensch erst die Dinge in einem berechnenden Horizont wahrnimmt. Deutlich wurde jedoch an obiger Stelle, dass die Annahme, das Geld selbst sei der Ursprung der Herausforderung an den Menschen, verkürzt ist. Ausgehend von der Gleichursprünglichkeit von Geld und modernem wissenschaftlichen Denken ist das Geld vielmehr ein Indikator dafür, dass die Herausforderung an den Menschen schon ergangen ist." (S.180f)
Zunächst einmal: Es handelt sich nicht um irgendeine "Grundannahme", sondern um die Hermeneutik von gewissen Phänomenen. Keineswegs will ich behaupten, daß das Geld "erst die Dinge in einem berechnenden Horizont" erscheinen läßt. "Berechnung" hat zwei grundverschiedene Bedeutungen in zwei wesensverschiedenen phänomenologischen Bewegungsontologien, die ich hier kurz erläutern möchte (siehe aber die vertiefende Lektüre unten).
Deshalb grundsätzlicher: Ich wollte und will gerade diesen Weg zu einer Zusammenfügung des Marxschen und Heideggerschen Denkens versperren! Denn es liegen hier zwei wesentlich unterschiedliche, einfache Paradigmen vor, nämlich: das Paradigma der produktiven, herstellenden Bewegung einerseits und das der Austauschbewegung andererseits. Diese beiden Bewegungsarten haben wesensunterschiedliche Ontologien. Heidegger richtet sein Augenmerk ausschließlich auf das Paradigma der _technae poiaetikae_, das Aristoteles für seine Ontologie der produktiven Bewegung verwendet. Diese Bewegungsontologie behält ihre totalisierende Vorherrschaft über das Denken bis heute. Heideggers kritischer Wesensbegriff der Technik zielt darauf, die geschichtliche Vollendung und Totalisierung der wissenden, berechnenden Herstellung in der heutigen Welt auf den Begriff zu bringen. Für ihn sowie für die meisten seiner Leser sind _technae poiaetikae_ und _technae_ gleichbedeutend. Damit unterschlägt er stets, daß die Griechen viele verschiedenen _technai_ außer der _technae poiaetikae_ (die produktive, machende, herstellende Kunst wie z.B. das Tischlerhandwerk) — insbesondere die der _technae chraematistikae_, d.h. der geldmachenden Kunst — nicht nur kannten, sondern auch in philosophischen Schriften (vor allem Platons) thematisierten. Mit der _technae chraematistikae_ kommt das Paradigma des Austausches (_metabolae_ in einer seiner zwei grundlegenden Bedeutungen), nämlich des Warenaustausches, als einer nicht-produktiven Bewegungsart ins Spiel. Dieses Austauschspiel auf dem Markt wird im 5. Buch der Nikomachischen Ethik unter der Rubrik "Austauschgerechtigkeit" abgehandelt, und es ist gerade diese Aristotelische Abhandlung, die Marx als eine der Aristotelischen Quellen zur Ausarbeitung seiner Wertformanalyse dient.
Das Warentauschspiel auf dem Markt kann als elementares Paradigma für die Vergesellschaftung der Menschen gelten, wohl gemerkt: eine dinglich vermittelte Vergesellschaftung, deren geschichtliche Entfaltung wir heute in der vollen Blüte des globalen Kapitalismus erfahren. Weder Heidegger noch Aristoteles noch Marx haben die Ontologie des Austauschspiels ausgearbeitet, die ich mit dem Begriff des Gewinnspiels fasse, sofern es wertdinglich vermittelt ist. Das vergesellschaftende Wechselspiel unter den Menschen muß aber nicht wertdinglich vermittelt sein. In diesem Fall rede ich vom "mutually estimative interplay", d.h. vom gegenseitig ein- und wertschätzenden Wechselspiel.
Das gegenseitige Wechselspiel des Wertschätzens und vor allem seine eigentümliche Bewegungontologie als Interplay wird grundsätzlich weder von Heidegger noch von der modernen Wirtschaftswissenschaft gesehen, denn sie bleiben jeweils dem Paradigma und der Ontologie der produktiven, herstellenden Bewegung verhaftet bzw. verpflichtet. Deshalb kann z.B. der Markt in der heutigen Wirtschaftswissenschaft als bloßer "Mechanismus" der effizienten Ressourcenverteilung (miß)verstanden werden, was Albrecht affirmativ zitiert, weil sein Ansatz unwissentlich darin besteht, die wesensverschiedenen Bewegungsontologien zu nivellieren. So übernimmt er kritiklos eine weitverbreitete Selbstdefinition der Wirtschaftswissenschaft, "wonach Wirtschaft der Ausschnitt menschlichen Handelns ist, der in Verfügung über knappe Mittel zur Erfüllung menschlicher Bedürfnisse besteht" (S.181). Diese Definition ist gerade dadurch motiviert, daß die Wirtschaftswissenschaft von Anfang an immer schon auf den Erfolg der Naturwissenschaft geschielt und sich bemüht hat, sich möglichst an das Paradigma und die Ontologie der produktiven, effizienten Bewegung anzupassen, wobei sie allerdings auf die Hilfe von "speziellen mathematisch-statistischen Verfahren" (S.182) angewiesen ist, da eindeutige wirkkausale Beziehungen wie etwa in der Newtonschen Mechanik fehlen. Damit aber wird das Phänomen und die Ontologie des gegenseitig wertschätzenden Wechselspiels und seiner Vermittlung durch den verdinglichten Wert nicht nur unsichtbar, sondern auch unterdrückt. Auf diese Weise tut die Wirtschaftswissenschaft den Phänomenen mutwillig Gewalt an, um dem Paradigma der herstellenden Bewegung treu zu bleiben und ihre Wissensmacht sowie ihren Status als Wissenschaft aufrechtzuerhalten.
Dem Schein der Wissenschaftlichkeit der Wirtschaftswissenschaft wird dadurch Vorschub geleistet, daß das Medium des verdinglichten Werts, in dem das Gewinnspiel des Kapitalismus gespielt wird, das wertschätzende Wechselspiel unter den Menschen selbst und mit der Natur verschleiert. Stattdessen werden die Wertdinge selbst fetischisiert, sie scheinen, an sich Wert zu besitzen. Deshalb erscheint die Welt des Gewinnspiels im verdinglichten Wertspiegel verkehrt. Die Fehldeutung elementarer Phänomene macht blind und hat verheerende Folgen für die Menschen sowie für die Erde.
Im wertdinglich vermittelten Gewinnspiel des Kapitalismus wird der Mensch zum Spieler und verliert seine neuzeitliche Wesensbestimmung als Subjekt, das der Bewegung der Welt zugrunde liegen soll. Die Setzung dieses Sollen ist ein vergebliches normatives bzw. ethisches Unterfangen in unserer heutigen Welt. Vielmehr ist das gegenseitig sich einschätzende, wertschätzende Wechselspiel unter den Menschen immer ein Kräftespiel (power play), — ob wertdinglich vermittelt oder nicht, und ob es füreinander, miteinander oder gegeneinander gespielt wird. Alle Ethik gründet damit in solchem wertschätzenden Kräftespiel, in dem Werte im weitesten Sinn auf dem Spiel stehen. Die Ethik erlangt so ihre ontologische Fundierung dadurch, daß die eigentümliche vergesellschaftende Bewegungsart des gegenseitig wertschätzenden Wechselspiels auf den Begriff gebracht wird.
Vertiefende Lektüre: Kapital und Technik: Marx und Heidegger (2015)
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