In seinen Vorlesungen im Sommersemester 1925 schreibt Martin Heidegger im Hinblick auf Husserls bahnbrechende Logische Untersuchungen (1900/1901), die so wichtig für sein eigenes Verständnis und Lernen der phänomenologischen Methode waren:
"Ungewohnter und ganz gegen die übliche Art zu philosophieren, ist die Weise der Durchdringung und Aneignung, die das Werk fordert. Es hat einen durchgehenden untersuchenden Gang; es verlangt schrittweise, ausdrücklich anschauliche Vergegenwärtigung und kontrollierende Ausweisung dessen, wovon gehandelt wird. Man kann also nicht [...] einfach Resultate herausnehmen..." Gesamtausgabe Band 20 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs GA20:32.
Nicht zufällig war Husserl zuerst ein Mathematiker, der unter dem entscheidenden Einfluß von Franz von Brentano zur Philosophie übergewechselt ist. Die mathematische Sprache selbst ist eine arbeitende Sprache, die verlangt, daß der Lernende jeden einzelnen Schritt in der Gedankenführung mitvollzieht. Sonst lernt man nichts, sondern bekommt höchstens einen äußerlichen Eindruck von dem, was der Gedankengang selbst zur Erscheinung bringt. So neigen auch die meisten philosophischen Gelehrten dazu, über die Phänomene oder gar bloß über Philosophennamen zu reden, statt von den Phänomenen selbst her zu denken.
Das Wort 'Mathematik' stammt vom altgriechischen _mathaesis_ 'Lernen' und ist also weiter als die Mathematik im engeren Sinn als Wissenschaft etwa von geometrischer Figur und Zahl. Für das philosophische Denken hat das zur Folge, daß auch die Philosophie die "schrittweise, ausdrücklich anschauliche Vergegenwärtigung und kontrollierende Ausweisung dessen, wovon gehandelt wird," verlangt. Das ist anstrengend, aber es sichert einen klaren Blick auf die Phänomene selbst. Die phänomenologische Methode ist Denkweg, der die "Anstrengung des Begriffs" (Hegel) fordert. Bekanntlich war auch Hegel Phänomenologe.
Umgekehrt bedeutet dies, daß diejenigen, die sich vor der "Anstrengung des Begriffs", d.h. der schrittweise arbeitenden, entbergenden Mathesis, scheuen, lediglich einer Selbsttäuschung unterliegen bloß meinend, daß sie philosophieren. Diese Selbsttäuschung ist die Regel unter den 'professionellen Philosophen', weshalb es nur äußerst selten einen Denker gibt. Denn jeder Denker, der echt lernend denkt, geht stets zurück in die tiefsten, noch ungeprüften Vorverständnisse bzw. — stets stillschweigend verborgenen — Voraussetzungen seiner philosophischen Vorgänger, um sie genauer zu prüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Philosophisches Denken ist in erster Linie die schrittweise Arbeit des Abbaus von verdeckenden Vorurteilen. Die Philosophie befreit, indem der/die Philosophierende durch begriffliche Arbeit lernt, klarer zu sehen. Somit steht jede Philosophie auch stets der Kritik offen.
Vertiefende Lektüre: Martin Heidegger Gesamtausgabe Bd. 20 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs.
English version:
In his lectures in the summer semester of 1925, Martin Heidegger writes with regard to Husserl's trail-blazing Logical Investigations (1900/1901) that were so important for his own understanding and learning of the phenomenological method:
"More unusual and completely contrary to the usual way of philosophizing is the mode of penetrating and appropriating demanded by the work. It has a thoroughgoing investigative path; it demands a step-wise, expressly clear bringing-to-presence and scrutinizing demonstration of the subject dealt with. Hence you cannot simply take out results..." Prolegomena to a History of the Concept of Time Gesamtausgabe Band 20.
It is no accident that Husserl was first a mathematician who, under the decisive influence of Franz von Brentano, switched over to philosophy. Mathematical language itself is a working language demanding that the one learning follows every single step in the train of thoughts. Otherwise you learn nothing, but at the most get only a superficial impression of what the path of thinking itself brings to manifestation. Thus, even most philosophical scholars tend to speak about phenomena or even merely about philosopher-names, instead of thinking from the phenomena themselves.
The word 'mathematics' stems from ancient Greek _matheasis_, signifying 'learning', and is thus broader in meaning than mathematics in the narrower sense as, say, the science of geometrical figure and number. For philosophical thinking this has the consequence that philosophy, too, demands "a step-wise, expressly clear bringing-to-presence and scrutinizing demonstration of the subject dealt with". This is strenuous, but it secures a clear view of the phenomena themselves. The phenomenological method is a path of thinking demanding the "strenuousness of the concept" (Hegel). As is well-known, Hegel, too, was a phenomenologist.
This means conversely that those who avoid the "strenuousness of the concept", i.e. step-wise working, revealing learning, only fall foul of self-deception, merely opining that they are philosophizing. This self-deception is the rule among the 'professional philosophers', for which reason genuine thinkers are extremely rare, for every thinker who thinks in a genuinely learning fashion always goes backwards into the deepest, as yet unexamined preconceptions and — invariably tacit, hidden — presuppositions of his or her philosophical predecessors in order to examine them more closely and, if necessary, to revise them. Philosophical thinking is primarily the step-wise work of demolishing prejudices that cover up. Philosophy is liberating in that, through conceptual work. the one philosophizing learns to see more clearly. Thus every philosophy is also always open to critique.
Further reading: Martin Heidegger History of the Concept of Time - Prolegomena
Gesamtausgabe Band 20, English translation T. Kisiel.