30 July 2015

Sperrzone Bewußtsein

"Die oft genannte 'weltweite Wirkung' meines Denkens bleibt eine rätselhafte Illusion. Was hält den Menschen in der Sperrzone des 'Bewußtseins' gefangen? Warum wird der Rückgang ins Dasein nicht vollzogen und nicht gewährt?

"The oft-mentioned 'worldwide impact' of my thinking remains a perplexing illusion. What holds humankind captive to the closed-off zone of 'consciousness'? Why is the path back into Dasein not taken and not granted?"

Auszüge zur Phänomenologie aus dem Manuskript 'Vermächtnis der Seinsfrage' (1973-75) II 121 Jahresgabe der Martin Heidegger Gesellschaft 2011/12

Heidegger spricht hier kurz vor seinem Tod vom Bewußtsein als einer "Sperrzone". Demnach ist das Bewußtsein ein Innenbereich, der durch einen Gürtel (Gr. zw/nh) von der Außenwelt abgeschnitten ist. Sein Weltruhm als Philosoph ist schon längst etabliert, die Sekundärliteratur wird bereits auf Hochtouren produziert, und zwar in vielen Sprachen weltweit. Dennoch spricht der alte Heidegger von einer "Illusion".

Und er stellt die Frage:

Warum wird der Rückgang ins Dasein nicht vollzogen und nicht gewährt?

"Rückgang" heißt hier, daß nichts Neues proklamiert wird, sondern daß das Dasein der ursprünglichere Ort von dem ist, was in der Neuzeit -- d.h. in ihrem vorherrschendem hermeneutischen Als, wodurch das Weltverständnis entworfen wird -- zum inneren Bewußtsein geworden ist.

Trotz -- oder vielmehr wegen -- aller Heidegger-Forschung bleibt das heutige Denken in dieser Sperrzone eingesperrt. Oder der Ausbruch bleibt auf halbem Weg stecken.
Setzt die Heidegger-Forschung in aller Welt nicht urspünglich genug an?
Dafür gibt es starke Hinweise.
So wird das Sein etwa von Tom Sheehan als dasjenige verstanden, das ermöglicht, daß Seiendes für uns als bedeutungsvoll erscheint. Auf diese Weise wird die Seinsfrage auf die Frage nach dem hermeneutischen Als eines Zeitalters reduziert. Das Da, die Lichtung, wird dann lediglich zum 'neutralen', wenn auch offenen Ort des Sichzeigens des als so-oder-so bedeutungsvollen Seienden, d.h. das Sein auf das Seiende zugedacht, und so lediglich noch einmal metaphysisch -- wenn auch nicht bewußtseinsmetaphysisch -- verstanden. D.h. für Sheehan ist die Lichtung die "clearing-for-meaning" von Seiendem. Zudem verwechselt Sheehan -- sowie Heidegger selbst -- das hermeneutische Als verstanden als um-fassender, orientierender ontologischer Kompaß eines Zeitalters mit der gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Erklärung des Wandels dieses Zeitalters.

Das Da des Daseins aber ist die Zeitlichtung selbst, d.h. das Da und die Zeit sind dasselbe.
(Bezeichnenderweise denkt Heidegger die Zeitlichtung als solche nirgendwo, sondern ersetzt fatalerweise die Zeit durch die Lichtung nun als =a)lh/qeia gedacht.)
Ein älterer Name für das Da ist der Geist, .nou=j
Das Da, der Geist, ist nicht in einem inneren Bewußtseinsbereich eingesperrt, sondern ist selbig mit der offenen, dreidimensionalen, ek-statischen Zeitlichtung selbst. Erst durch die Ausgesetztheit des Menschseins in der ek-statischen Zeitlichtung -- die vorräumlich und daher auch vorweltlich ist -- kann das Menschsein als Ek-sistenz verstanden werden..

Daß der Sinn des Seins die Zeit selbst ist, wird übersehen oder vielmehr beiseite geschoben, und zwar zugunsten eines 'verständlicheren' Zugangs zur Seinsfrage.
Damit kann aber die heutige Vorherrschaft des analytisch-wissenschaftlichen Denkens auf der Grundlage seiner Bewußtseinsmetaphysik weder in Frage gestellt noch verwunden werden.

Die Antwort auf Heideggers Warum-Frage oben, die er selber nicht klar gesehen hat, lautet: der Wille zur Macht über jedwede Art von Bewegung, der unbedingt des modernen hermeneutischen Seinsentwurfs des ein- oder mehrbahnigen Ursache-Wirkungs-Verhältnisses und damit einhergehend der eindimensionalen, mathematisierten, linearen Zeit bedarf, um die Kontrolle zu behalten. Was ist der Geist bzw. Intellekt denn anders als die scharfe, feine Beobachtung -- nicht die beherrschende Kontrolle -- des oft sehr komplizierten, gekreuzten Spiels der An- und Abwesung, Ent- und Verbergung von all dem, was vorkommt -- eben in der Zeitlichtung? Die lineare Zeit der Wissenschaft hingegen ist eine Zwangsjacke der Wirkkausalität, die unbedingt die Vorausberechenbarkeit aller Bewegung ermöglichen sollte -- gleichgültig dagegen, daß sie oft genug scheitert.

Diesem unbedingten, besessenen Willen zur Macht entspricht eine Gelehrtenforschung, die akademisch abgerichtet ist, und es deshalb nicht wagt, begrifflich die Phänomene selbst zu denken über Heidegger hinaus (was u.a. eine Auseinandersetzung mit der mathematisierten Zeit sowie mit der wie die Pest vermiedenen Frage nach dem Wersein erforderte), und sich stattdessen damit bequemt, mit tadellosem Gelehrtenfleiß Bücher und Aufsätze lediglich über Heidegger sowie andere Philosophen zu verfassen. Die Philosophengelehrten meiden die Frage nach der Zeit, genauso wie die Wissenschaflter es tun. Wagten sie es, die Sperrzone des Bewußtseins ernsthaft denkerisch zu verlassen, fänden sie sich aus der Akademie ausgesperrt -- d.h. nicht mehr ernst genommen. Lieber hält man sich weiterhin in der komfortablen Sicherheitszone des Gelehrtentums auf.

Zur vertiefenden Lektüre: A Question of Time.

12 comments:

  1. wir sind (fast) alle zu blind den Weg zu erkennen.
    most people don't even understand the concept, let alone the potential importance of a Rueckgang.
    i think people don't follow heidegger for the same reason that they don't follow the buddha: esoteric wisdom traditions do not penetrate thick skulls.
    and recently there is so much nonsense about heidegger's political activities (or lack thereof) that people are distracted from the meta-metaphysical insights which are the crux of heidegger's teachings.
    so many are so easily distracted. even the "professionals". alas.

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    1. My thesis is that it is precisely the "professionals" who work assiduously against any lucid ontological orientation in our age -- the (natural and social) scientists because they have imbibed and unquestioningly believe in the Cartesian hermeneutic cast of scientific method, and the scholars because they don't dare seriously question this Cartesian cast in favour of a more open, alternative hermeneutic cast by engaging in rigorous conceptual ontology. And the rest follow this leadership, with science being the hegemon and scholarship being the merely complacent, comfortable, ultimately innocuous side-show.

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    2. i fully agree. the professional class of intellectuals who call themselves "social scientists" are more like clergy: protecting the status quo, rather than challenging it, as real scientists would. they PREVENT revolution, rather than instigating the necessary break-through into the "closed-off zone".... i am bemused at the word "Sperrzone": wer hat es gesperrt? isn't this something we do to ourselves? police close off an area from parking: who restricts access to actual thinking (as opposed to repeating dogmatic pathways of "consciousness")?
      of course most people obey the traffic signals as ordered by the scientists, professors, politicians and other secular priests in dark-grey suits. [notice how i excuse the scholars in dapper light suits!]
      professors (like priests) who do not toe the line are excommunicated. perhaps this is some of the root of the anti-heidegger sentiment in some circles.
      martin luther's brave act of 1517 will be celebrated in wittenberg in two years time: i love the fact that we occasionally praise heretics...
      was heidegger a heretic in exposing the academic priest class?

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    3. There are myriad Glasperlenspiele in Academia, including among Heidegger scholars. A Heidegger scholar has just as sure a preservative, conservative instinct for power in these games as any other academic.

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    4. yes. even in buddhist academic circles, many are more interested in ego games than in recognizing the Truth behind/beyond the Self.
      i am disappointed to see so many come into contact with profound wisdom and manage to mutate love of wisdom into a subset of the Will to Power....
      es gibt kein Da da.
      perhaps it is naive of me to map heidegger's analysis of meta-metaphysics onto the buddhist tetralemma, but i see a similar intention: to get the listener to escape from dogma by identifying & destroying it; and to urge the listener to return to pure direct experience.
      but this is another question...
      i just saw that you linked this to another lecture about time: i will have at it and return in a few days... or at some other time... :-)

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    5. As far as I can see, it is time itself (i.e. the time-clearing) that steps into the place of inner consciousness, thus overcoming the ubiquitous clichéd thinking of inside (consciousness) and outside (external world), the predilection for the sensuously present and the pernicious washing-line of absolute linear time (one-way linear succession) that serves efficient causality. Hope you enjoy A Question of Time.

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  2. i just received "a question of time". it will be a matter of some time before i can return to this conversation....

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  3. This comment has been removed by the author.

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  4. although i feel soiled after reading derrida, your analysis of his dismissive sneering delighted me: "Derrida's grammatogrammy is a project of blind, blinding writing for a literarily inclined audience susceptible to certain stylistic gestures in writing and profoundly disinclined to follow the pointing of words to the phenomena themselves".
    bravo!
    it is like those who cannot see that the hand is pointing towards the moon, and insist on commenting on the nail polish of the person who is pointing....
    i am still wading through your book, digesting in small bites....

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  5. OMG... late in "A Question of Time" you quote James Mensch. he was a tutor of mine decades ago at st john's college! small world, ain't it? we didn't read much 20th century material, so i didn't encounter heidegger there, but we did read PLENTY of aristotle, and we read many of the pre-socratic fragments in greek.
    εν το ον and παντα ρει were discussed deeply and often, as well as aristotle's τι, ποιοσ, ποσοσ και που.... [how do i make that cool final sigma?]
    i am still not through with your book, but i just had to OMG this little tid-bit at you...
    i wonder if you are familiar with ouspensky's concept of time? it works around inside/outside (subjectivity/objectivity) by an analogy with many-dimensioned physical objects which are passing through a less-dimensioned consciousness, which is bound by its structure to perceive the unfolding as "real" sort of like hume's cat which walks back and forth behind a hole in a fence. i don't think ouspensky knew about "Flatland" but he used a similar image: flatlanders can construct an understanding of a cube by synthesizing a series of 2D cross-sections which unfold in time, although they are actually an unchanging 3D solid. ouspensky argues that the "past" and "future" are just different slices of an unchanging multi-dimensional being.
    anyway, i am getting ahead of myself, or rather, falling behind in my goal of finishing your book before daring to comment on it, or ratherest, distracting myself from "A Question of Time" by thinking of other times.

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    1. James Mensch is today in Prague, right? I know someone else who taught at St. Johns, Ingo Farin, who's now in Tassie (U. Tas. in Hobart). No, never heard of Ouspensky, but am familiar with the idea of reduced dimensionality. The conception of 4D space-time inviates it, turning time as it does into space, that is, the path of light. Ideas of the block universe, and also Julian Barbour's aim an eliminating this pesky time t from the equations. It's doable because time has already been reduced to a continuous, linear, real variable in modern mathematized physics.

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