10 July 2014

Zu Jürgen Borcherts Sozialstaatsdämmerung

Ich habe ein wenig in das Buch Sozialstaatsdämmerung von Jürgen Borchert (Riemann Verlag, München 2013) geschaut. Auf dem Klappentext hinten steht: "Deutschland: Weltmeister der sozialen Ungerechtigkeit?" Soweit ich sehe, ist Borchert dem verengten, einseitigen (vgl. Aristoteles' Doppelbegriff der Gerechtigkeit in Buch V der Eth. Nic.) deutschen Begriff der sozialen Gerechtigkeit zum Opfer gefallen. Nun kann ja allein von einem Begriff die Klarsicht abhängen. Die soziale Gerechtigkeit wird durchgängig mit der Umverteilungsgerechtigkeit gleichgesetzt. Dabei ist der Agent der Umverteilung der Sozialstaat, d.h. der Staat, der die Gesellschaft in sich aufgesogen hat. Als Ort der Asozialität wird damit Gesellschaft zurückgelassen — wie man tagtäglich hierzulande erfahren kann —, deren Ordnung polizeilich geschützt werden muß, weil die Gesellschaft kein Ethos des ungezwungenen, fairen Umgangs miteinander atmet. In der asozialen Gesellschaft entlarvt der Deutsche die Freundlichkeit grundsätzlich als Scheißfreundlichkeit. Bezeichnenderweise kann man "Sozialstaat" nicht mit "social state" ins Englische übersetzen. It makes no sense. Nicht von ungefähr bemüht Borchert die Metapher des Sozialstaatsschiffs, auf dem Lasten nach "Leistungsfähigkeit" (S.238) gerecht verteilt werden müssen, damit das Schiff nicht kentert. Bocherts Polemik und Analyse zielen ausschließlich darauf, die vom Sozialstaat durchgesetzte Umverteilung zugunsten einer angeblich gerechteren Umverteilung zu reformieren, also: die Umverteilung (besser, 'gerechter') umverteilen 

Die Freiheit wird durch die Bindung an die "soziale Verantwortung" (S.26) von vornherein neutralisiert und so außer Kraft gesetzt. Die Freiheit ist für Borchert kein Thema. Stattdessen: "Das Sozialstaatsprinzip gebiete [...] die annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten..." (S.28), also die "Baugesetze", "Gleichheits- wie das Sozialstaatsprinzip". (S.29). Der Sozialstaat sei da, um die "Lebensrisiken 
[...]  in einem einheitlichen System abzusichern: Alter, Krankheit und Pflege" (S.235), denn "Unsicherheit macht radikal" (S.234). Das war schon Bismarcks Einsicht und politisches Kalkül, um die Arbeiterbewegung durch sozial-demokratische Sozialversicherung zu befrieden. Borchert denkt also durch und durch gestellhaft (vgl. Heideggers "Ge-Stell") und so deutsch. Der Sozialstaat beruht folglich implizit auf einem — wenn auch noch geldvermittelten — kommunistischen Prinzip, das Karl Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms 1875 an seinem Geburtstag formuliert hat: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" (MEW19:21) Damit bleibt Borcherts Gerechtigkeitsverständnis totalitär, nämlich sozialtotalitär.

Der Autor hat offenbar nicht einmal das völlig andere Verständnis von social justice in angelsächsischen Ländern in Betracht gezogen. In einer Rede neulich von der ehemaligen australischen Premierministerin Julia Gillard
(Labor) zum Thema Social Justice wird dieser Begriff sofort mit "fairness" bzw. "fair go" übersetzt (zum Nachhören). Auch in den U.S. civil rights struggles um social justice geht es stets um fair play, d.h. um die Abschaffung von sozialer Diskriminierung, die das interplay bzw. Wechselspiel der Wertschätzung untereinander in der Gesellschaft verzerrt und so verhäßlicht. Dieses Verständnis von social justice bleibt nach wie vor der deutschen Auffassung von sozialer Gerechtigkeit gänzlich fremd. Soziale Gerechtigkeit ist auf Deutsch fraglos als Umverteilungsgerechtigkeit zu verstehen. Sonst sei man sozial verantwortungslos wie der von Borchert verteufelte, ehemalige FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff (S.20). Eine Gerechtigkeit des fairen Umgangs miteinander ist dem Deutschen und insbesondere Borchert höchstens eine nette kulturelle Nebensache, die den Kern der Gerechtigkeit selbst nicht trifft. Wenn Graf Lambsdorff ein "Staatsverächter" (S.20) sein soll, dann ist Borchert selbst ein Gesellschaftsverachter, der die Asozialität von Gesellschaft affirmiert und die Freiheit verabscheut.

Auch Marx stellt in
seiner Kritik des Gothaer Programms die Frage, "Was ist 'gerechte' Verteilung?" (MEW19:18) Wo bleibt die Freiheit? Daß Freiheit die Kehrseite des Risikos ist und damit den Mut zum Wagnis verlangt, bleibt ein undeutscher Gedanke, der unterdrückt wird durch die Urangst der durch jahrhundertlange Dressur zur Mutlosigkeit gezüchteten Deutschen vor dem Chaos, das angeblich gleich ausbricht, wo der Sozialstaat nicht für die Absicherung der Bürger sorgt. In einer solchen Gesellschaft bleibt kein Spiel-Raum für die Singularität des Einzelnen, der seinen eigensten freien -- und so unabgesicherten, risikoreichen -- Lebensentwurf wagt. Borcherts Buch setzt eine lange Tradition in Deutschland zu Begriff und Phänomen der Gerechtigkeit fort. Schade, daß der Autor sich gerade nicht für eine Dämmerung des Sozialstaats zugunsten einer freieren Gesellschaft einsetzt.

Vgl. 
Commutative and distributive justicePotentiality and Actuality und Set-up vs. gainful game.sowie meine Social Ontology.

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