Ich habe ein wenig in das Buch Sozialstaatsdämmerung von
          Jürgen Borchert (Riemann Verlag, München 2013) geschaut. Auf dem Klappentext hinten steht: "Deutschland: Weltmeister der sozialen Ungerechtigkeit?"
          Soweit ich sehe, ist Borchert dem verengten, einseitigen (vgl. Aristoteles' Doppelbegriff der Gerechtigkeit in Buch V der Eth. Nic.) deutschen Begriff der
          sozialen Gerechtigkeit zum Opfer gefallen. Nun kann ja allein von einem Begriff die Klarsicht abhängen. Die soziale Gerechtigkeit
                        wird durchgängig mit der
                        Umverteilungsgerechtigkeit gleichgesetzt. Dabei ist der
                        Agent der Umverteilung der Sozialstaat, d.h. der
                        Staat, der die Gesellschaft in sich aufgesogen
                        hat. Als Ort der Asozialität wird damit Gesellschaft zurückgelassen — wie man tagtäglich
                        hierzulande erfahren kann —, deren Ordnung polizeilich
                        geschützt werden muß, weil die Gesellschaft kein Ethos des ungezwungenen, fairen Umgangs miteinander atmet. In der asozialen Gesellschaft entlarvt der Deutsche die Freundlichkeit grundsätzlich als Scheißfreundlichkeit. Bezeichnenderweise
                                        kann man "Sozialstaat" nicht mit
                                        "social state" ins Englische
                                        übersetzen. It makes no sense. Nicht
                        von ungefähr bemüht Borchert die Metapher des
                            Sozialstaatsschiffs, auf dem Lasten nach "Leistungsfähigkeit" (S.238) gerecht
                            verteilt werden müssen, damit das Schiff
                            nicht kentert. Bocherts Polemik und Analyse
                            zielen ausschließlich darauf, die vom
                            Sozialstaat durchgesetzte Umverteilung
                            zugunsten einer angeblich gerechteren Umverteilung
                            zu reformieren, also: die Umverteilung (besser, 'gerechter') umverteilen 
                        
                        Die Freiheit wird durch die Bindung an die
                        "soziale Verantwortung" (S.26) von vornherein neutralisiert und so außer Kraft gesetzt. Die Freiheit ist für Borchert kein Thema. Stattdessen: "Das
                        Sozialstaatsprinzip gebiete [...] die
                        annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten..."
                        (S.28), also die "Baugesetze", "Gleichheits- wie
                        das Sozialstaatsprinzip". (S.29). Der
                        Sozialstaat sei da, um die "Lebensrisiken [...]  in einem einheitlichen System abzusichern: Alter, Krankheit und Pflege"
                        (S.235), denn "Unsicherheit macht
                        radikal" (S.234). Das war schon Bismarcks
                        Einsicht und politisches Kalkül, um die
                        Arbeiterbewegung durch sozial-demokratische
                        Sozialversicherung zu befrieden. Borchert denkt also durch und durch gestellhaft (vgl. Heideggers "Ge-Stell") und so deutsch. Der Sozialstaat beruht folglich implizit auf
                                        einem — wenn auch noch geldvermittelten — kommunistischen Prinzip, das Karl Marx in seiner Kritik des
                                        Gothaer Programms 1875 an seinem
                                        Geburtstag formuliert hat:
                                        "Jeder nach seinen Fähigkeiten,
                                        jedem nach seinen Bedürfnissen!"
                                        (MEW19:21) Damit bleibt Borcherts Gerechtigkeitsverständnis
                                        totalitär, nämlich
                                        sozialtotalitär.
                                        
                                      Der
                        Autor hat offenbar nicht einmal das völlig
                        andere Verständnis von social justice in
                        angelsächsischen Ländern in Betracht gezogen. In
                        einer Rede neulich von der ehemaligen
                        australischen Premierministerin Julia Gillard (Labor) zum
                        Thema Social Justice wird dieser Begriff sofort mit "fairness" bzw. "fair go" übersetzt (zum
                        Nachhören). Auch in den U.S. civil rights struggles um
                        social justice geht es stets um fair play, d.h. um die Abschaffung von sozialer Diskriminierung,
                        die das interplay bzw. Wechselspiel der Wertschätzung untereinander in der Gesellschaft verzerrt und so verhäßlicht.
                        Dieses Verständnis von social justice bleibt
                        nach wie vor der deutschen Auffassung von
                        sozialer Gerechtigkeit gänzlich fremd. Soziale Gerechtigkeit ist auf Deutsch fraglos als
                                Umverteilungsgerechtigkeit zu verstehen.
                                Sonst sei man sozial verantwortungslos
                                wie der von Borchert verteufelte, ehemalige
                                FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff
                                (S.20). Eine Gerechtigkeit des fairen
                                Umgangs miteinander ist dem Deutschen
                                und insbesondere Borchert höchstens eine nette kulturelle Nebensache, die den Kern der Gerechtigkeit selbst nicht trifft. Wenn Graf
                                                        Lambsdorff ein
                                                        "Staatsverächter"
                                                      (S.20)
                                                        sein soll, dann ist Borchert selbst ein
                                                        Gesellschaftsverachter,
                                                        der die
                                                        Asozialität von
                                                        Gesellschaft
                                                        affirmiert und die Freiheit verabscheut.
                                                        
                                                      Auch
                                Marx stellt in
        seiner
                                                          Kritik des
                                                          Gothaer
                                                          Programms die
                                                          Frage, "Was
                                                          ist 'gerechte'
                                                          Verteilung?" (MEW19:18)
                                                          Wo bleibt die
                                                          Freiheit? Daß
                                                          Freiheit die Kehrseite
                                                          des Risikos
                                                          ist und damit
                                                          den Mut zum
                                                          Wagnis
                                                          verlangt,
                                                          bleibt ein
                                                          undeutscher
                                                          Gedanke, der unterdrückt
                                                          wird durch
                                                          die Urangst
                                                          der durch jahrhundertlange Dressur zur Mutlosigkeit gezüchteten Deutschen
                                                          vor dem Chaos,
                                                          das angeblich gleich ausbricht, wo
                                                          der
                                                          Sozialstaat
                                                          nicht für die
                                                          Absicherung
                                                          der Bürger
                                                          sorgt. In einer solchen Gesellschaft
                                                          bleibt kein
                                                          Spiel-Raum für
                                                          die
                                                          Singularität
                                                          des Einzelnen,
                                                          der seinen eigensten freien -- und so unabgesicherten, risikoreichen -- Lebensentwurf wagt. Borcherts Buch setzt eine lange Tradition in Deutschland zu Begriff und Phänomen der Gerechtigkeit fort. Schade, daß der Autor sich gerade nicht
                                                          für eine Dämmerung des
                                                          Sozialstaats
                                                          zugunsten
                                                          einer freieren
                                                          Gesellschaft
                                                          einsetzt.
                                                          
Vgl. Commutative and distributive justice, Potentiality and Actuality und Set-up vs. gainful game.sowie meine Social Ontology.
