05 February 2014

Niall Ferguson "Wir löschen unseren Erfolg"

Der Abdruck von Niall Fergusons Vortrag 'Wir löschen unseren Erfolg' in Die Zeit. vom 08.05.2013 ist lesenswert. Der Historiker zeigt auf sechs Schlüsselphänomene in der Entwicklung des Westens, die er auf "bestimmte Ideen, vor allem aber die Institutionen, die diese Ideen vorantrieben", zurückführt. Aus philosophischer Perspektive gebe auch ich "bestimmten Ideen" den Vorzug, die aber von viel weiter als dem 16. Jh. herkommen. Sie sind nämlich griechischen Ursprungs.

Die Idee der Freiheit (_eleutheria_) überhaupt ist mit den Griechen und ihren internen und externen (vor allem mit den Persern) Freiheitskämpfen entstanden. So wurde zum ersten Mal auch mit einer Herrschaftsform wie Demokratie experimentiert, worin die freien Bürger mit- und gegeneinander streben, ihre öffentlichen Angelegenheiten (res publica) zu regeln und zwar auf der Agora, die zugleich Marktplatz und Versammlungsplatz der Bürger war. Dort wurde also gehandelt und verhandelt in zweierlei Sinn und so sowohl Dinge als auch Menschen bezüglich ihres Werts in einem 
laufenden Wertschätzspiel eingeschätzt.

Die andere Idee entstammt der Bemühung in der von den Griechen 'erfundenen' Philosophie über Jahrhunderte -- angefangen mit Parmenides und Herakleitos -- mit dem Phänomen der Bewegung bzw. der Veränderung klar zu kommen. Diese vielfachen Bemühungen kulminierten schließlich in Aristoteles' Bestimmung der ontologischen Struktur der Bewegung als herstellender, produktiver, effizienter Bewegung durch die Kernbegriffe _dynamis_, _energeia_ und _entelecheia_. Es war gerade dieses Verständnis von Bewegung bzw. Veränderung, das 
dann im 17. Jh. vor allem von Descartes und Newton mathematisiert wurde, und so die Entstehung der modernen mathematischen Wissenschaften -- angefangen mit der Physik -- ermöglichte. Dieses Wissen -- in Technologie übersetzt -- hat geführt und führt heute immer noch sowohl in den Naturwissenschaften aber auch in den Sozialwissenschaften zur Explosion der Wirksamkeit, der Produktivität, der Herrschaft über Bewegungen jedweder Art.

Diese beiden Grundideen des Westens entfalteten in zwei 'Konstellationen' bzw. hermeneutische Weltentwürfe, einerseits in das von Heidegger genannte Gestell und andererseits in das von mir genannte Gewinnst. Diese beiden
Konstellationen verschränken sich wiederum in dem, was ich das Gegriff nenne (siehe mein Kapital und Technik: Marx und Heidegger, Kap. 7).

Heute freilich ist der ganze Erdball im Griff des Gegriffs. Ob die Chinesen den Westen an Wirksamkeit überholen, ist eine wichtige Frage im Zusammenhang mit der Überlegung, ob die Europäer mittlerweile viel zu sehr selbstzufrieden mit ihren Institutionen -- vor allem mit dem fürsorgenden, inzwischen schuldenbeladenen Sozialstaat -- geworden sind. 


Eine andere Frage allerdings ist, ob wir durch philosophische Theorie (Gk. _theorein_ heißt 'anschauen, betrachten') erst mal sehen lernen, wie es dazu kommen konnte, daß die Wirksamkeit und der "Erfolg" so eindimensional in der heutigen Welt, und zwar global, als die Kriterien schlechthin gelten. Dann ergäben sich vielleicht andere Möglichkeiten, die Welt zu entwerfen.  

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