Der Abdruck von Niall Fergusons Vortrag 'Wir löschen unseren Erfolg' in Die Zeit. vom 08.05.2013 ist lesenswert. Der
Historiker zeigt auf sechs Schlüsselphänomene in der Entwicklung des
Westens, die er auf "bestimmte Ideen, vor allem aber die
Institutionen, die diese Ideen vorantrieben", zurückführt. Aus
philosophischer Perspektive gebe auch ich "bestimmten Ideen" den Vorzug, die aber
von viel weiter als dem 16. Jh. herkommen. Sie sind nämlich
griechischen Ursprungs.
Die Idee der Freiheit (_eleutheria_) überhaupt ist mit den
Griechen und ihren internen und externen (vor allem mit den
Persern) Freiheitskämpfen entstanden. So wurde zum ersten Mal
auch mit einer Herrschaftsform wie Demokratie experimentiert,
worin die freien Bürger mit- und gegeneinander streben, ihre
öffentlichen Angelegenheiten (res publica) zu regeln und zwar
auf der Agora, die zugleich Marktplatz und Versammlungsplatz der
Bürger war. Dort wurde also gehandelt und verhandelt in
zweierlei Sinn und so sowohl Dinge als auch Menschen bezüglich ihres Werts in einem laufenden Wertschätzspiel eingeschätzt.
Die andere Idee entstammt der Bemühung in der von den Griechen
'erfundenen' Philosophie über Jahrhunderte -- angefangen mit
Parmenides und Herakleitos -- mit dem Phänomen der Bewegung bzw.
der Veränderung klar zu kommen. Diese vielfachen Bemühungen
kulminierten schließlich in Aristoteles' Bestimmung
der ontologischen Struktur der Bewegung als herstellender,
produktiver, effizienter Bewegung durch die Kernbegriffe _dynamis_, _energeia_ und _entelecheia_. Es war gerade dieses
Verständnis von Bewegung bzw. Veränderung, das dann im 17. Jh. vor
allem von Descartes und Newton mathematisiert wurde, und so die Entstehung der modernen mathematischen Wissenschaften --
angefangen mit der Physik -- ermöglichte. Dieses Wissen -- in
Technologie übersetzt -- hat geführt und führt heute immer noch
sowohl in den Naturwissenschaften aber auch in den
Sozialwissenschaften zur Explosion der Wirksamkeit, der
Produktivität, der Herrschaft über Bewegungen jedweder Art.
Diese beiden Grundideen des Westens entfalteten in zwei
'Konstellationen' bzw. hermeneutische Weltentwürfe, einerseits in das von Heidegger genannte
Gestell und andererseits in das von mir genannte Gewinnst. Diese
beiden Konstellationen
verschränken sich wiederum in dem, was ich das Gegriff nenne
(siehe mein Kapital und Technik: Marx und Heidegger,
Kap. 7).
Heute freilich ist der ganze Erdball im Griff des Gegriffs. Ob
die Chinesen den Westen an Wirksamkeit überholen, ist eine
wichtige Frage im Zusammenhang mit der Überlegung, ob die
Europäer mittlerweile viel zu sehr selbstzufrieden mit ihren
Institutionen -- vor allem mit dem fürsorgenden, inzwischen
schuldenbeladenen Sozialstaat -- geworden sind.
Eine andere
Frage allerdings ist, ob wir durch philosophische Theorie (Gk.
_theorein_ heißt 'anschauen, betrachten') erst mal sehen
lernen, wie es dazu kommen konnte, daß die Wirksamkeit
und der "Erfolg" so eindimensional in der heutigen Welt, und
zwar global, als die Kriterien schlechthin gelten. Dann
ergäben sich vielleicht andere Möglichkeiten, die
Welt zu entwerfen.
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