Wieder bei der Dreidimensionalität der Zeit angekommen. Hier noch ein paar Gedanken dazu. Die einfachsten Ideen sind am schwierigsten zu verstehen, zumal wenn sie durch Jahrhunderte und -tausende von Denkgewohnheiten verschüttet sind. Die westliche (abendländische) Wissenschaft (ἐπιστήμη) war von Anfang an darauf aus, die Bewegung (vor allem durch das Vorhersagen) zu beherrschen. Dafür waren Begriffe der eindimensionalen Zeit bzw. der Kausalität (vor allem der Wirkkausalität) mit der entsprechenden Ontologie der physisch-materiellen Bewegung vonnöten. Diese wurde von Aristoteles mit der Ontologie der τέχνη ποιητική (technae poiaetikae) in seiner Metaphysik Buch Theta geliefert.
Ab dem 17. Jh. wurde diese eine Ontologie durch Newton mathematisiert, ohne sie als Ontologie anzuerkennen, und dann auf alle Arten der Bewegung auch jenseits der physischen im 19. und 20. Jh. gedankenlos und so gewaltsam ausgedehnt. Heute wird sie darüber hinaus algorithmisiert und damit automatisiert. Unser menschlicher Geist wird so in Algorithmen digitalisiert und in eine künstliche, energiehungrige Welt — die Cyberwelt — ausgelagert. Unser eigener, ausgelagerter, digitalisierter Geist schlägt als die Diktatur der Algorithmen zurück, die aber als Steigerung der Bequemlichkeit verkauft und erfahren wird.
Das ist ein wesentlicher Teil der heutigen Weltlage bzw. Weltkonstellation. Der endlose Wille zur Macht über jedwede Art der Bewegung braucht unbedingt die wirkkausale eindimensionale Zeit, die er durch eine Verflachung der dreidimensionalen Zeit und damit durch eine Enteignung der Einbildungskraft bzw. der Phantasie erreicht. Die Einbildungskraft hat dann nur noch die Aufgabe, Geschichten zu erzählen. Aber sie hat eigentlich eine andere, anspruchsvollere Aufgabe: genuin zeitlich dreidimensionale Bewegungsarten — und damit anders als die physische Bewegung in der eindimensionalen Zeit — auf den Begriff zu bringen, ohne sie beherrschen zu wollen, sondern um sie zu verstehen. Das ist der Unterschied zwischen dem (kausalen) Erklären und dem (hermeneutischen) Verstehen.
Der andere wesentliche Teil der heutigen Weltkonstellation betrifft eine Bewegungsart sui generis: Die Bewegung der globalen Wirtschaft wird durch das Prinzip bzw. das Gesetz des sich unendlich verwertenden verdinglichten Werts geregelt bzw. beherrscht. (Auf der Oberfläche nennt man dies den Zwang zum Wirtschaftswachstum, der als selbstverständlich gilt.) Das wertverdinglicht vermittelte Wirtschaften ist eine zyklische und damit (schon wieder) zeitlich eindimensional-lineare Bewegungsart, die aber insofern nicht beherrschbar ist, als sie aus billionenfachen Transaktionen im Interplay des Gewinn-Spiels resultiert. Im voraus weiß man nicht — weder im Einzelnen noch im Großen —, ob die Verwertung durch die komplexe Verflechtung der konkurrierenden Kreisläufe gelingen wird. Von daher Marktreibungen, Disproportionalitäten, Insolvenzen, Rezessionen, Krisen.
Deshalb sind die Zentralbanken und andere Großspieler auf die Wirtschaftsdaten grundsätzlich im nachhinein angewiesen. Diese betreffen auch die 'Gesundheit' des Mediums des sich verwertenden Werts selbst: die Inflation der jeweiligen Geldform des Mediums darf weder zu niedrig noch zu hoch sein, damit das Gewinn-Spiel vorangetrieben wird und gewinnbringend bleibt. Die Justierung des jeweiligen (nationalen) Geldes durch Zinssatzpolitik kann nur tastend, ratend im nachhinein erfolgen. Deshalb ist die empirische Wirtschaftswissenschaft insgesamt dazu verdammt, immer hinterher zu hinken.
Das ambivalente Medium des verdinglichten Werts selbst aber ist überall und verseucht/beglückt alle Aspekte des Lebens. Die Warenkonsumtion gilt als das höchste Glück. Insbesondere erfordert das unendliche Bewegungsprinzip des Mediums — vermittelt durch den nie ablassenden Konkurrenzkampf — die ständige Kostensenkung, die ständige Produktivitätssteigerung (u.a. durch den Einsatz von Algorithmen), die maximale Ausnutzung der lebendigen menschlichen Arbeitskraft, so gut es geht.
Die zyklische Verwertungsbewegung des verdinglichten Werts durch seine Wertformen braucht auch immer mehr materielle Energie, um seine unendliche Expansion voranzutreiben. Dafür wird die Erde auch endlos ausgebeutet.
Seitdem aber der Geist sich von seiner eigentlichen Heimat verabschiedet hat und sich mit der bloßen empirischen Faktizität zufriedengibt, ist die Welt kraß fehlgedeutet. Der unbedingte Wille zur Macht über alle Arten der Bewegung in seiner Gewinn versprechenden Verzahnung mit der unendlichen Verwertungsbewegung des Mediums bleibt unsichtbar. Kein einziger in der geistigen Elite der Nobelpreisträger hatte oder hat eine blasse Ahnung davon — noch darf er eine solche haben.
Alles läuft wie am Schnürchen weiter.
Weitere Lektüre: On Human Temporality: Recasting Whoness Da Capo De Gruyter, Berlin 2024.