Skizzenhaftes aus einem Dialog mit einem Philosophen-Freund
Für die geschichtliche Verwandlung des Geists vom Bewußtsein zum Da-sein, was Heidegger "Ortsverlegung" (Zähringer Seminar Fr. 07.09.73) nennt, sehe ich die Notwendigkeit, die gewaltsame Verkehrung der verschiedenen Elementarphänomene unserer Welt unter der Herrschaft des eindimensionalen Zeitverständnisses überall im Einzelnen auszuarbeiten. Mein Anspruch ist es, die phänomenologische Gewalttätigkeit des hermeneutischen Als unserer heutigen Weltauslegung unter der Herrschaft des unbedingten Willens zur Macht über jedwede Art der Bewegung/Veränderung in den verschiedenen Phänomenbereichen aufzuzeigen. Dies geht mit dem die Vorstellungsweise der Wirkkauslität ermöglichenden eindimensionalen Zeitverständnis wesentlich einher. Da sind endlose Verkehrtheiten, die aber als selbstverständlich gelebt und nicht hinterfragt werden. Mit dem Hinterfragen von anscheinenden Selbstverständlichkeiten wird auch die Möglichkeit einer Verwandlung unserer epochalen Denkweise gezeigt und praktiziert.
Von 'drinnen' ist eine solche Verwandlung wortwörtlich undenkbar, zumal die Selbstzufriedenheit der vorherrschenden Denkweisen immer selbstzufriedener wird. Von 'drinnen' hat 'man', soweit ich sehe, zu der Vielfältigkeit der verkehrten Denkweisen phänomenologisch nichts zu sagen. Diese verkehrten Denkweisen, die Welt in ihrem Griff halten, sind nur aus dem Schritt zurück von ihnen zu erfahren. Heideggers tiefgehende Einsicht, die dem heute noch in allen Wissenschaften vorherrschenden metaphysischen Denken den Grund entzieht, kann mit einem knappen Zitat von Heidegger gesagt werden: "Sein besagt Anwesen" ('Zeit und Sein' 1962). Die phänomenologische Entfaltung dieser Grundeinsicht führt dazu, den Sinn des Seins selbst als die dreidimensionale, "ursprüngliche" Zeit zu bestimmen. Und von diesem radikalen Neuansatz heißt es dann, weiter zu denken. Denn ein alternativer hermeneutischer Entwurf eines so grundlegenden Phänomens wie der Zeit hat Konsequenzen für die Auffassungsweise aller weiteren Phänomene, d.h. für ihre Deutung-als....
Zugleich erfordert Heideggers Vernachlässigung gewisser Elementarphänomene auch ein Weiterdenken, das sein Denken auf eine höhere Ebene hebt, d.h. im Hegelschen Sinne dreifach aufhebt (negiert, bewahrt, erhöht). Dieser Mangel betrifft in erster Linie die Phänomenbereiche des Miteinander wie z.B. die Gerechtigkeit, die Freiheit, die Vergesellschaftung durch das Medium des verdinglichten Werts.
Die geschichtliche Verwandlung des Geists vom Bewußtsein zum Da-sein erfordert also die Überwindung der Selbstverständlichkeit, daß die Seienden 'da draußen' in der Welt Gegenstände gegenüber einem Bewußtsein sind, das sich irgendwie 'drinnen' aufhält. Für mich ist Gegenständlichkeit der hermeneutische Entwurf des Seienden als solchen für ein Bewußtseinssubjekt und innerhalb seiner Subjektivität in dem geschichtlichem Zeitalter der Neuzeit. Verwandlung unserer Denkweise schließt demnach insbesondere die Aufhebung der Innen/Außen Spaltung im subjektivistischen Denken zwischen einem inneren subjektiven Bewußtsein und einer äußeren objektiven Welt ein.
Ein Schlüssel zur Verwindung der Gegenständlichkeit in unserer selbstverständlichen Denkweise heute liegt für mich im Phänomen der τιμή, d.h. der Schätzung, und zwar als fundamentaler Alternativentwurf zur Vergegenständlichung des Seienden im Ganzen. Diese Vergegenständlichung des Seienden wurde geschichtlich von Anfang an durch den ontotheologischen unbedingten Willen zur Macht vorangetrieben und dann ins Extem getrieben in dem, was bei Heidegger Ge-Stell heißt: die Verabsolutierung der τέχνη ποιητική, die bereits beim allerersten (Aristotelischen) Entwurf einer Bewegungsontologie ansetzt, wobei in diesem Entwurf die vielen anderen Arten der τέχναι, die die Griechen in ihrer Welt kannten, 'übersehen' wurden. Oder eher: für den Willen zur Macht über die Bewegung waren sie nicht geeignet. Seitdem heißt 'Wissenschaft' im Westen das Bestreben, Bewegungen jedweder Art zu beherrschen.
Hingegen zeigt die Schätzung eine Offenheit für all das, was in der dreidimensionalen Zeit an- und abwest, d.h. überhaupt west, ohne unbedingt seine Bewegtheit beherrschen zu wollen. Das Wesen wird damit vollkommen verbal, d.h. beweg-lich, von der 3D-Zeit her gedacht und erfahren, es verliert seine substantivistischen Züge. Οὐσία heißt dann als Wesenheit oder vielmehr als Wesung (verbal) etwas ganz anderes als es in der ganzen metaphysischen Tradition bedeutet: nämlich, Wassein. Das Wesen der Wesenden in der 3D-Zeit wird fortan geschätzt statt zum Zweck der Herrschaft vergegenständlicht (bzw. im Ge-Stell gestellt) zu werden. Die Wesenden sind sowohl Was- als auch Werwesende, was das westliche Denken im 'ersten Entwurf' nie gedacht hat und unter dem unheimlichen Willen zur Macht nicht denken konnte. Das traditionelle metaphysische Denken war und ist bis heute immer darauf aus, alles Was- und Werseiende als Was zu denken, nämlich, als Wesen im substantivischen Sinn, und von daher ihre Bewegungen berechnend (heute zunehmend automatisiert algorithmisch) zu beherrschen.
Für die werseienden Menschen, d.h. für uns alle, hat dieser unheimliche Wille zur Macht die Konsequenz, daß sie immer mehr zum Spielball von verschiedenen Machtspielen werden, zumal die Psychologie die Psyche selbst als eine Art Was denkt (daher der Neurowissenschaft mit ihren ungeheuren Machtbestrebungen zugänglich) und eben nicht als die Offenheit der dreidimensionalen Zeit selbst. Wir können aber auch die Wesenden — egal ob als Was oder als Wer — schätzen (und tun dies bereits teilweise implizit), indem wir durch Denken explizit verstehen lernen, daß sich die Wesenden in der 3D-Zeit als Zu-Schätzende öffnen. Die Öffnung der Wesenden als Zu-Schätzenden ist — vermittelt eben durch die 3D-Zeit — letztlich Gabe des Ereignisses, dessen allererste Gabe die Zeitlichtung ist. Da der Herrschaftsanspruch der Vergegenständlichung in dieser alternativen Denkweise verwunden wird, werden alle unseren Lebensbewegungen mit den als Was Wesenden sowie miteinander als Werseienden zu einem Schätzspiel, wobei dieses Schätzspiel freilich auch in deformierten, abträglichen, gar zerstörerischen Spielweisen gespielt werden kann und wird. Im Miteinander ist das Schätzspiel in unserer geteilten Lebensbewegtheit ein gegenseitiges Spiel der Kräfte.
Im Alltagsleben der Gesellschaft (kurz: Einkommenverdienen) wird das Schätzspiel im Medium des verdinglichten Werts als Gewinnspiel gespielt. Solange dieses Medium des verdinglichten Werts nicht durchschaut wird, werden wir Menschen bloß auf Spieler in einem Gewinnspiel reduziert, in dem es Gewinner und Verlierer gibt. Alle Spieler werden so oder so zu Sklaven des Strebens nach mehr und mehr. Die Alternative dazu? Einsehen zu lernen und einzusehen, daß unser alltägliches Schätzspiel nicht notwendig ein kompetitives Gegeneinander sein muß, sondern daß es die geschichtliche Möglichkeit eröffnet. daß hinter dem Schleier des verdinglichten Werts unser Schätzspiel ein unendliches Füreinander sein kann.
Hintergrundlektüre: Das Ende der Wissenschaft und der Anfang der Weisheit